Thomas Hartung: WIDER DIE EIGENEN ZENSURREFLEXE
- 13. Juni
- 7 Min. Lesezeit
Die deutsche Ideokratie ist unterwegs in einen sanften Totalitarismus, der nicht mit Panzern, sondern mit Algorithmen, Meldeportalen und moralischer Empörung operiert. Ein Warnruf.
Der Liberalismus stirbt nicht an seinen Gegnern, sondern an sich selbst, wusste Carl Schmitt. Nichts ist gefährlicher als der Glaube, die Wahrheit könne verwaltet werden, mahnte Hannah Arendt. Beide Diagnosen treffen den Kern unserer Zeit: Die offene Gesellschaft, einst gegründet auf Vernunft, Diskurs und Selbstverantwortung, erliegt einem Kontrollfieber, das sie ihrem eigenen Ideal entfremdet. Sie verwandelt sich in das, was Ralf Dahrendorf als „autoritären Liberalismus“ beschrieb – eine Herrschaftsform, die sich pluralistisch gibt, aber nur den Pluralismus ihrer eigenen Ideologie duldet. Die bitterste Ironie: Ausgerechnet die Verteidiger der Freiheit liquidieren deren Grundprinzipien, indem sie Widerspruch pathologisieren und Abweichung unter Generalverdacht stellen. Ausgerechnet jene, die die Demokratie zu schützen vorgeben, untergraben ihre Grundfesten.
So sagte die neue Bundesfamilienministerin Karin Prien (CDU!) jetzt auf der re:publica über soziale Medien: „Machen wir uns nichts vor. Um Regulierung kommen wir nicht drumherum, wenn wir unser liberales, demokratisches System retten wollen.“ Wem zur Rettung der liberalen Demokratie zuerst die Instrumente von Autokraten einfallen, hat sich auf dem Weg zur Rettung der Demokratie schon verlaufen, zürnte FDP-Urgestein Wolfgang Kubicki auf Facebook und erkannte „ein weitverbreitetes Phänomen in der deutschen Politik”. Wer meine, „die öffentliche Debatte staatlich steuern zu können, weil Positionen ‘krude’ seien, hat weder den Kern der Meinungsfreiheit noch die Aufgabe demokratischer Politiker im Meinungskampf verstanden.”

Die Gesellschaft hat sich in ein Labor der Erregung verwandelt, in dem Metadiskurse über „Desinformation“, „Hassrede“ und „toxische Inhalte“ die Kommunikation vergiften. Was früher als Zumutung der Meinungsfreiheit galt, erscheint heute als Störung eines fragilen Kommunikationsökosystems. Die Demokratie gerät unter Kuratel – nicht durch ihre Feinde, sondern durch ihre eigenen Mechanismen: Regulierer, Kuratoren, „Trusted Flagger“, Faktenverwalter... und Denunzianten. Publizist Jacob Schirrmacher, Sohn des legendären FAZ-Herausgebers, und der Verfassungsrechtler Volker Boehme-Nessler haben Ende Mai parallel zur re:publica in zwei geschliffenen Cicero-Beiträgen diesen schleichenden Wandel präzise seziert.
Ihre Analysen, obwohl thematisch verschieden, eint ein liberalkonservativer Alarmruf: Die offene Gesellschaft stirbt nicht an ihren Gegnern, sondern an den Zensurreflexen ihrer eigenen Verwalter. Schirrmacher entlarvt die Desinformationsbekämpfung als technokratisches Wahrheitsregime, Boehme-Nessler warnt vor einer politisierten Denunziationskultur in Schulen. Beide verbindet die Sorge, dass aus betreutem gelenktes Denken wird, dass die Demokratie in ihrem Eifer, sich zu schützen, ihre Seele preisgibt.
Diskurs wird durch Dekret ersetzt
Die Formulierung von Prien unterzieht Schirrmacher in der Welt zunächst einer semantischen Sektion: Dem klassischen „Einstieg in den politischen Paternalismus, die rhetorische Geste des Erwachsenen, der dem unvernünftigen Bürger die Illusion raubt, es gäbe noch eine Alternative“, folge die scheinbare Sachlogik staatlicher Alternativlosigkeit: „Um Regulierung kommen wir nicht drumherum“ – als wäre „Regulierung kein politischer Akt, sondern eine geologische Notwendigkeit”. Schließlich der „Schlussakkord im Ton moralischer Dringlichkeit“: „… wenn wir unser liberales, demokratisches System retten wollen.“ Und genau hier liege „der argumentative Bruch: Denn was da gerettet werden soll, wird zuvor systematisch entkernt”. Dass Prien hier von einem „liberalen“ System spricht, ist nicht nur eine semantische Ungenauigkeit, sondern ein kategorischer Widerspruch. Die liberale Demokratie lebt – und stirbt – mit der Freiheit der Meinung, auch der falschen.
Der chamäleonhafte Begriff „Desinformation“ selbst, das trojanische Pferd der modernen Diskurskontrolle, wirkt ebenfalls nicht durch Präzision, sondern durch Unschärfe. Wie Schirrmacher treffend analysierte: Je vager die Definition, desto wirksamer das Werkzeug. „Desinformation“, „Hassrede“ oder „rechte Umtriebe“ – diese Begriffe lieben die Konturlosigkeit, weil sie Kontrolle ermöglicht, ohne Beweislast, ohne Differenzierung. Sie dienen nicht der Klarheit, sondern der Macht. Die EU institutionalisiert diese Unschärfe mit dem Digital Services Act (DSA). Zertifizierte „Trusted Flagger“ – NGOs, Plattformen wie Correctiv oder halbstaatliche Konsortien – entscheiden, was „schädlich“ oder „inakzeptabel“ ist. Ein gerichtlicher Nachweis? Überflüssig. Moralische Entrüstung ersetzt den Rechtsstaat. Denn: Besonders gefährlich wird es, wenn der Staat sich selbst als Retter inszeniert – vor einem Feind, den er zugleich definiert, moniert Schirrmacher.
Der Fall Correctiv 2024 – Stichwort „Geheimplan zur Remigration“ – zeigt, wie investigativer Aktivismus zur politischen Intervention wird. In medialem Schulterschluss mit Regierungsvertretern wurde eine narrative Deutung zur unumstößlichen Wahrheit erklärt, Kritiker pauschal als Demokratiefeinde diffamiert. Der Kampf gegen die „autoritäre Gefahr von rechts“ geriet selbst zum autoritären Reflex. Wahrheit wird zur „Community Guideline“, Abweichung zum Sicherheitsrisiko. Schon Eric Voegelin erkannte: „Die Wahrheit ist kein Produkt der Verwaltung.“ Doch genau das wird versucht: ein Regime der Meinungshygiene, das den Diskurs durch Dekret ersetzt. Eine Demokratie, die ihre Bürger nur reden lässt, wenn sie das „Richtige“ sagen, ist keine Demokratie, sondern eine gelenkte Öffentlichkeit mit demokratischem Anstrich, schimpft Schirrmacher.
Dieser virologische Diskurs – „toxische Inhalte“, „kognitive Verschmutzung“, ja „Infodemie“ – pathologisiert den Bürger als gefährdeten Wirt, der vor abweichenden Meinungen geschützt werden muss wie vor dem Corona-Virus. Die Immunantwort: Kontrolle, Vorzensur, algorithmisches Säubern. Was als Schutz vor Manipulation begann, ist selbst zur Manipulation geworden. Der Bürger ist nicht mehr Souverän, sondern Patient. Dieses Misstrauen gegenüber der Urteilskraft des Einzelnen zieht sich durch alle gesellschaftlichen Schichten, besonders drastisch in der Bildungslandschaft. Der Vorschlag der GEW, Melde- und Beschwerdestellen gegen „rechte Lehrer“ einzurichten, mutet an wie ein dystopischer Rückgriff auf DDR-Methoden. Hier wird nicht nur die Meinungsfreiheit eingeschränkt, sondern eine Atmosphäre des Misstrauens geschaffen, in der Lehrer sich selbst zensieren und Schüler zu Denunzianten werden.
Der Begriff „rechts“ wird dabei so vage gehalten, dass er alles und nichts bedeuten kann – von AfD-Mitgliedschaft bis zu einer abweichenden Wortwahl. Diese semantische Unschärfe ist kein Versehen, sondern ebenfalls ein Werkzeug der Kontrolle. Boehme-Nessler wies zu Recht auf die Folgen hin: Misstrauen, Einschüchterung, soziale Fragmentierung. Kinder lernen nicht mehr argumentieren, sondern alarmieren; Lehrer nicht mehr differenzieren, sondern sich selbst zensieren. Der Denunziant, einst als „größter Lump im ganzen Land“ gebrandmarkt, wird zum Ehrenbürger einer neuen Ordnung, die „Demokratiebildung“ predigt, aber autoritätshörige Selbstzensur trainiert. Was sich vollzieht, ist kein Putsch, sondern ein schleichender Umbau: ein sanfter Totalitarismus, der mit moralischer Erpressung operiert. Boehme-Nessler kritisiert die GEW-Forderung als Ausdruck einer politischen Mode, die in pauschaler Feindbildproduktion mündet. „Rechts“ wird zum moralischen Totschlagargument, das jede Differenzierung erstickt.
Recht auf Desinformation
Peter Sloterdijk sprach einst von der „Überhitzung der moralischen Haushalte“, die rationale Immunmechanismen außer Kraft setzt. Der moderne Bürger, so seine Diagnose, ist kein rationaler Diskursakteur mehr, sondern ein Getriebener im Dauerstress moralischer Empörung. Wokeness ist kein Programm, sondern ein Habitus; politisches Engagement kein Akt der Überzeugung, sondern der Selbstrettung. Diese Überhitzung zerstört die Fähigkeit zur Gelassenheit, zur Differenz, zur Selbstkritik. Alles wird sofort skandalisiert, in Empörungszyklen verwertet. Der Dissens wird nicht widerlegt, sondern pathologisiert. Diese Überhitzung kulminiert in einem moralischen Überwachungsstaat, dessen Polizei der Narrative in NGOs, Medienräten und Plattform-Konsortien sitzt. Der Liberalismus stirbt an seiner autoimmunen Reaktion: Er impft sich gegen Widerspruch und verliert dabei seine Identität. Die Nebenwirkungen werden achselzuckend in Kauf genommen.
Die Bekämpfung von „Desinformation“ ist das Exorzismusritual einer postideologischen Zeit. Die eigentliche Katastrophe ist dabei weniger die Desinformation, sondern die Simulation der Wahrheit durch selbsternannte Kuratoren. Der Correctiv-Skandal zeigte, wie schnell journalistische Selektivität zur politischen Realität wird, wenn sie ins Narrativ passt. Friedrich Hayek hätte hierin eine neue „Anmaßung von Wissen“ erkannt: Wahrheit ist kein Gut, das sich zentralplanerisch verteilen lässt. Sie ist ein Prozess – konflikthaft, unabschließbar, unbequem. „Freiheit bedeutet immer auch Freiheit der Andersdenkenden“, mahnte Rosa Luxemburg. Doch diese Freiheit wird verdächtig, der Widerspruch neutralisiert – durch moralische Überhöhung, administrative Exekution und eine Öffentlichkeit, die lieber empört als aufgeklärt ist.
Schirrmacher fordert prompt ein „Recht auf Desinformation“ – nicht als Plädoyer für die Lüge, sondern als Verteidigung epistemischer Offenheit. Eine pluralistische Gesellschaft lebt vom Streit, vom Zweifel, vom Risiko des Irrtums. Zensur, so seine These, zerstört nicht nur die Freiheit, sondern auch die kritische Vernunft, die aus dem Widerstreit der Meinungen erwächst. Boehme-Nessler sieht in der Denunziationskultur eine Bedrohung des sozialen Vertrauens. Wenn Lehrer und Schüler sich gegenseitig überwachen, wird der Raum für offenen Austausch zur Sperrzone. Die Demokratie lebt vom Widerspruch, nicht von seiner Neutralisierung. „Deutschland hat zwar keine Lösungs-, dafür aber eine Meldestellenkompetenz“, spottet Anna Schneider auf Welt TV.
Wahrheit braucht keine Kuratel
Ein zentraler Punkt beider Texte ist das Misstrauen gegenüber moralisch aufgeladenen Diskursen, die zu normativen Waffen mutieren, die abweichende Positionen aus dem Diskurs drängen. Was hier auf dem Spiel steht, ist die Idee der offenen Gesellschaft selbst. Der DSA und die GEW-Meldestellen sind Symptome dieses Kräftemessens – sie versprechen Schutz, liefern aber obrigkeitliche Willkür. Schirrmacher spricht von einem „Dispositiv“ (Foucault), das komplexe Phänomene in Gut-Böse-Schemata presst.
Beide Autoren ziehen historische Parallelen, um die Dringlichkeit ihrer Warnungen zu unterstreichen. Schirrmacher sieht in der Desinformationsbekämpfung ein „Regime der Wahrheitssimulation“, das an autoritäre Wahrheitsmonopole erinnert. Die Logik der Plattformzensur ist keine Diskussion, sondern eine Verordnung – ein Verwaltungsakt, der an die bürokratischen Exzesse totalitärer Systeme gemahnt. Boehme-Nessler geht noch weiter und verweist auf die Denunziationssysteme der NS-Zeit und der DDR-Stasi. Diese Systeme lebten von der Mitwirkung der Bürger, die aus Angst oder Überzeugung zum Werkzeug der Macht wurden. Die GEW-Meldestellen drohen, eine ähnliche Dynamik zu entfesseln: eine Gesellschaft, die sich selbst überwacht. Die historische Lehre ist klar: Autoritäre Kontrolle bedarf keiner Panzer – sie gedeiht in der Bereitschaft der Bürger, ihre Freiheit für vermeintliche Sicherheit aufzugeben. Die offene Gesellschaft ist keine Selbstverständlichkeit; sie muss täglich verteidigt werden, gegen ihre eigenen Reflexe.
Fazit: Die offene Gesellschaft muss vor ihren falschen Freunden gerettet werden. Karl Popper wusste: Wer Freiheit schützen will, muss ihr Risiko akzeptieren, einschließlich der Freiheit zur Lüge. Demokratische Persönlichkeiten entstehen nicht durch pädagogische Hygiene, sondern durch Reibung, Selbstbehauptung, intellektuelle Provokation. Die Wahrheit braucht keine Kuratel, sondern Luft. Arendt erinnerte uns: „Die Fähigkeit zum Denken ist die Grundlage aller Freiheit.“ Wer Diskursräume mit Redeverboten flutet, erstickt diese Grundlage. Wahrheit ist kein Gut, das sich verwalten lässt, erst recht kein Verwaltungsakt, sondern ein lebendiger Prozess, der aus Konflikt und Debatte entsteht, der Zweifel und Mut erfordert.
Die Verteidigung der offenen Gesellschaft beginnt bei uns selbst – in der Weigerung, andere zum Schweigen zu bringen, nur weil ihre Gedanken uns missfallen. In der Bereitschaft, Dissonanz auszuhalten, den Irrtum zuzulassen, die Lüge zu riskieren. In der Rückkehr zum Vertrauen in den mündigen Bürger – wie er sich zum Ende der DDR auch manifestierte. Wer in der Abweichung nur Gefahr sieht, hat die Demokratie nie verstanden. Wer die Wahrheit kuratieren will, hat ihre Kraft nicht begriffen. Eine Gesellschaft, die glaubt, sich durch Zensur zu retten, zerstört ihre innere Verfassung. Sie schafft Sicherheit um den Preis der Selbstaufgabe. Es ist Zeit, das Denken zu entgiften – nicht durch Löschung, sondern durch Diskussion; nicht durch Algorithmen, sondern durch Urteilskraft, nicht durch Meldeportale, sondern durch Vertrauen, nicht durch Empörung, sondern durch Argumente. Denn wie Arendt wusste: „Die Wahrheit ist nicht tyrannisch. Aber sie ist wehrlos, wenn niemand für sie einsteht.“ Die offene Gesellschaft lebt vom Widerspruch – oder sie stirbt an ihrer eigenen Angst vor ihm. Freiheit ist keine Zumutung. Sie ist das Letzte, was bleibt.
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Über den Autor: Thomas Hartung, geb. 1962 in Erfurt; promovierte nach seinem Lehramtsstudium in Magdeburg 1992 zur deutschen Gegenwartsliteratur und war danach als Radio- und Fernseh-Journalist in Sachsen-Anhalt und Sachsen sowie als freiberuflicher Dozent für Medienproduktion und Medienwissenschaft an vielen Hochschulen Deutschlands tätig; der bekennende „Erzliberalkonservative“ trat als Student in die LDPD ein und 1990 aus der FDP aus: von „misslungener Einheit“ nicht nur mit Blick auf die Parteienfusion spricht er bis heute; Hartung war im April 2013 Mitbegründer der AfD Sachsen und wurde zweimal zum Landesvize gewählt. Seit März 2020 ist er Pressesprecher der AfD-Fraktion Baden-Württemberg.
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