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Till Kinzel: DER STAAT UND SEINE SOUVERÄNITÄT. HELMUT QUARITSCHS STANDARDWERK FÜR KRISENZEITEN

Die Zukunft des Staates ist ungewiß. So konnte man jedenfalls lange denken. Denn stand es nicht zu erwarten, daß überstaatliche Zusammenschlüsse wie die Europäische Union ihn ablösen würden? Die politischen Probleme unserer Zeit ließen sich nicht mehr oder nicht mehr allein mit den Mitteln des Nationalstaats lösen, so heißt es immer wieder – und daran ist sicher auch viel Wahres. Aber immer dann, wenn wir es mit handfesten politischen Krisen zu tun bekommen, steht auch die Frage nach dem Staat und damit nach seiner inneren und äußeren Souveränität auf der Tagesordnung. Denn Souveränität ist die Grundlage seiner Handlungsfähigkeit sowie im Letzten seiner Selbstbehauptung.



The real trouble will come with the "wake" Keppler & Schwarzmann: New York 1900


Im Zweifelsfall (!) kann sich nämlich niemand auf das Handeln von supranationalen Organisationen verlassen, wenn die nationalen Organisationen nichts oder nur wenig tun (können), um ihre Bevölkerungen angemessen zu schützen. Das gilt bei der Sicherung der eigenen Grenzen gegen organisierte Schlepperei und militärische Übergriffe und Spezialoperationen ebenso wie bei der inneren Sicherheit. Auch in wirtschaftlicher Hinsicht kann ein souveräner Staat trotz Globalisierung gestaltend wirken, wenn er sich nicht in unnötige Abhängigkeiten verstricken läßt, die ihn zur Verscherbelung seines Tafelsilbers zwingen oder anderweitig Vorgaben einer äußeren Macht unterwerfen. Souveränität hat auch schließlich etwas damit zu tun, eigene Freund-Feind-Entscheidungen zu treffen und nicht nur externen Zwängen und Wünschen zu folgen, die eine Artikulation eigener Interessen unterbinden.


Sehnsucht nach Staat

 

In der Staatslehre spielt daher das Konzept der Souveränität eine wichtige Rolle, auch wenn unter Juristen und Politologen zunehmend von einer „offenen Souveränität“ die Rede ist. Um aber zu verstehen, was die Souveränität ausmacht, geht es nicht ohne den Blick in ihre Geschichte. Denn der Staat ist kein Abstraktum, das überzeitliche Eigenschaften trägt und als normative Idee immer schon in einem Platonischen Wertehimmel existierte. Der Staat ist keine Substanz, die sich „einfach so“ erkennen ließe. Die gegenteilige Auffassung dürfte wohl darauf zurückgehen, daß vor allem die Deutschen angesichts ihrer fehlenden staatlichen Einheit über lange Strecken der Geschichte eine Art Staatssehnsucht entwickelten, eine Sehnsucht nach dem Wesen des Staates.

 

Blicke in die Geschichte werden heute jedoch nicht allzu gern gesehen – oder nur dann, wenn sie mittels propagandistischer Verkürzung für aktuelle Zwecke instrumentalisiert werden können. Das gilt heute dann, wenn unter kenntnisarmer Berufung auf die Kolonialvergangenheit oder das deutsche Kaiserreich eine moralistische Plusmacherei zugunsten der politisch-korrekten Machteliten von Baerbock bis Steinmeier betrieben wird. Dann wäre die einzige Lehre aus der Geschichte, daß wir es im besten Deutschland, das es je gegeben hat, so herrlich weit gebracht haben, weil wir uns von all dem aus unserer Vergangenheit gelöst haben, das uns nicht an die große Schuld erinnert. Aber auch wenn manch ungeliebtes Erbe in der Vergangenheit liegt, das mehr oder weniger bereitwillig angenommen worden war, geht darin die Geschichte nicht auf. Sie sperrt sich gegen ihre bloße Vernutzung im aktuellen Diskurs. Aber sie hat es angesichts des rapiden Verlustes an Geschichtsbewußtsein schwer, sich als Widerlager zu halten: Die Instrumentalisierung der Geschichte, so scheint, ist das geistige Pendant zu der Instrumentalisierung des Staates, der gegenwärtig immer mehr Züge eines postdemokratischen Gesinnungsstaates annimmt.


Helmut Quaritsch ist unüberholt

 

In einem solchen Klima ist es eine Wohltat, die 1970 erschienene und 2019 vom Ludwigsfelder Verlagshaus nach vielen Jahrzehnten endlich wieder aufgelegte Habilitationsschrift von Helmut Quaritsch in die Hand zu nehmen. Der in Speyer lehrende Staatsrechtler Quaritsch (1930-2011), der sein juristisch-politisches und anthropologisches Denken an Arnold Gehlen und Carl Schmitt geschult hatte, verfaßte mit seinem Buch über die geschichtlichen Grundlagen von Staat und Souveränität ein Werk, das „bis heute nicht überholt“ ist, wie der Historiker Hans-Christof Kraus so lakonisch wie zutreffend konstatiert.

 

Wie kann das sein, wo doch angenommen werden müßte, daß die Fortschritte von Geschichts- und Politikwissenschaft uns heute einen ganz anderen Blick auf die Geschichte des Staates und der Souveränitätsidee lehren sollten? Nun – es kann sein, weil sich Einsichten, die den Kern des Problems berühren, erhalten, auch wenn spätere Forscher diesen oder jenen Akzent im Detail anders setzen mögen. Und so ist es auch mit Quaritschs Buch. Dieses fängt zwar mit einem sachlichen Fehler an, wenn er Friedrich Nietzsche als einen „deutsche(n) Professor der Philosophie“ tituliert – das war er nie, auch wenn er es, eine zeitlang, zweifellos gern gewesen wäre… . Nietzsche also –, der erklärt habe, daß Gott tot sei. Aber Quaritsch nutzt dies lediglich als Aufhänger für das Bonmot, daß eine Generation später ein Anhänger von Georges Sorel erklärt habe, der Staat sei tot. Auf den Tod Gottes folgte also der Tod des Staates. Wie der moderne Staat, dessen Tod hier verhandelt wird, entstand, entfaltet Quaritsch in einer Analyse, die sich vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Verfassungsfragen auf einen Ordnungs-Denker der Frühen Neuzeit bezieht: Jean Bodin (1530-1596).

 

Denn es war Bodin, der in seinen Sechs Büchern über den Staat die Souveränität zum Zentrum seiner Staatslehre machte, für die als selbstverständliche Staatsaufgaben der „Schutz des Staates nach außen und der Schutz des Bürgers gegen den unfriedlichen Mitbürger“ gelten konnten. Für Bodin aber ging es nicht einfach nur um den Staat an sich, der auch der schlecht verwaltete oder der tyrannische Staat sein konnte. Sondern für ihn konnte der höchste Staatszweck nur von einem wohlgeordneten Staat erfüllt werden – also von einem Staat, der seine Bürger ein sittliches Leben führen läßt, was aber wiederum nur in einem staatlichen Rahmen überhaupt in vollem Umfang möglich ist.


Kann ein Staat seine Souveränität untergraben?

 

All das wirft die Frage auf, was es eigentlich ist, das über Leben und Tod des oder eines Staates entscheidet. Die naheliegende Antwort: Es muß irgendetwas mit der Souveränität zu tun haben. Denn ein Staat, der diese nicht für sich in Anspruch nehmen kann, verfügt gleichsam nicht über das volle Spektrum der möglichen Lebensäußerungen und Vitalfunktionen. Aber was bedeutet dies genau? Ist der Staat entweder souverän oder nicht? Gibt es so etwas wie eine Teilsouveränität? Oder wäre dies etwas analog zur Teilschwangerschaft? Kann der Staat selbst seine Souveränität untergraben? Und welche Rolle, wenn überhaupt, spielen dabei individuelle Akteure wie Staatsmänner (und, wie man heute wohl sagen muß, Staatsfrauen)?

 

Man sollte sich, folgt man Quaritsch, vor einer Bestimmung des Staates hüten, der diesen in seiner Totalität erfaßt, denn stets lassen sich mit juristischen, politologischen oder nationalökonomischen Sichtweisen immer nur Akzente auf bestimmte Aspekte des Staates setzen. Aber auch diese bieten doch wichtige Leitlinien dafür, was unter den Staatsfunktionen essentiell ist. Der moderne Staat als Staat entsteht vor dem Hintergrund einer langen Geschichte, aber er entsteht nicht aufgrund göttlicher Stiftung oder aufgrund eines Vertrags – solche Dinge kann man getrost vernachlässigen.


Entscheidend ist und bleibt


  1. die „Unabhängigkeit nach außen“ und

  2. die „Herstellung und Bewahrung des allgemeinen Friedens im Innern“.


Als Quaritsch sein Buch schrieb, war schon zu spüren, daß sich im Gebälk des Staates Risse auftaten, die seither noch deutlicher zu erkennen sind. Quaritsch selbst hat aber den versprochenen zweiten Band über die Souveränität im 20. Jahrhundert, wie es in einem aktiven Wissenschaftlerleben zu gehen pflegt, nicht mehr vorgelegt. Für das 21. Jahrhundert steht eine umfassende Analyse des Souveränitätsproblems gleichfalls noch aus. Aber in einem Bändchen, das aus Anlaß des 80. Geburtstages von Quaritsch im Jahre 2010 erschien, griff der Freiburger Staatsrechtler Dietrich Murswiek die Thematik des unvollendeten Werkes von Quaritsch über Staat und Souveränität wieder auf. Der Grundsatz der souveränen Staatlichkeit als unabänderliches Verfassungsprinzip sei auch im gegenwärtigen Europa der EU von fortdauernder Bedeutung.[1] Denn Demokratie könne es nur geben, wenn ein Staatsvolk innerhalb eines klar umgrenzten Territoriums in gleichen, freien und geheimen Wahlen über sein politisches Schicksal bestimmen kann. Das ist auf europäischer Ebene aber eindeutig nicht der Fall, weil es aus strukturell wohl unvermeidlichen Gründen keine gleichen Wahlen in dem Sinne geben kann, daß jede in einem europäischen Staat abgegebene Stimme auch für die Bestimmung der Abgeordneten des EU-Parlaments gleich viel zählen würde.

 

Ob und wie sich das Bauprinzip des Staates, das wir Souveränität nennen, künftig durchhalten und für eine wiedergewonnene internationale Ordnung in Anspruch genommen werden kann, bleibt abzuwarten. Unstreitig dürfte aber sein, daß die Souveränität eines Staates die elementare Voraussetzung dafür ist, überhaupt bestimmen zu können, was das gute Leben für alle seine Bürger konkret bedeuten soll. Aber es stellt sich auch die bisher unbeantwortete Frage: Wer wird in der kommenden Postdemokratie eigentlich der Träger der Souveränität sein?


Helmut Quaritsch: Staat und Souveränität. Bd. 1: Die Grundlagen. Ludwigsfelde: Ludwigsfelder Verlagshaus, 2019. Broschiert, 585 S., EUR 35,-. Bestellungen unter ludwigsfelder-verlagshaus@t-online.de bzw. https://www.ludwigsfelder-verlagshaus.de/


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Über den Autor: Till Kinzel ist habilitierter Literatur- und Kulturwissenschaftler. Er hat u.a. Bücher zu Allan Bloom, Nicolás Gómez Dávila, Philip Roth und Michael Oakeshott und Johann Georg Hamann publiziert. In TUMULT hat er über Panajotis Kondylis geschrieben (und im Blog über Ricarda Huch und Wyndham Lewis).


[1]     Dietrich Murswiek: Der Grundsatz der souveränen Staatlichkeit als unabänderliches Verfassungsprinzip. In: Hans-Christof Kraus, Heinrich Amadeus Wolff (Hg.): Souveränitätsprobleme der Neuzeit. Freundesgabe für Helmut Quaritsch anlässlich seines 80. Geburtstages. Berlin: Duncker & Humblot, 2010, S. 95–147.



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