Daniel Zöllner: DIE KOSTEN DER ENTGRENZUNG. ZU PETER SLOTERDIJKS PHILOSOPHIE DER GLOBALISIERUNG
- 5. Mai
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Aktualisiert: 6. Juni
Anthropologische Balance
Die philosophische Anthropologie des 20. Jahrhunderts hat deutlich gemacht, dass der Mensch ein Mischwesen ist: nach Max Scheler ist er einerseits umweltgebunden, andererseits weltoffen; nach Helmuth Plessner schwingt der Mensch zwischen zentrischer und exzentrischer Positionalität. In seiner Philosophie der Globalisierung aktualisiert Peter Sloterdijk diese Erkenntnisse: Gelingendes Leben bedarf ebenso sehr der Immunität, der Selbstpräferenz und der Exklusivität wie der Immunitätsvergessenheit, der Fremdpräferenz und der Inklusivität. Mögen sich die erstgenannten Begriffe auch anhören „wie die Zusammenfassung eines rechtsradikalen Parteiprogramms“ (so Sloterdijk ironisch) – sie bezeichnen dennoch eine notwendige Voraussetzung dafür, dass das Leben nicht in Formlosigkeit zerfließt.
Monotonisierung der Welt
Die Globalisierung hat sich jedoch in den letzten Jahrhunderten als große Zerstörerin der kulturellen Immunsysteme erwiesen und das Pendel des anthropologischen Gleichgewichts höchst einseitig ausschlagen lassen in Richtung von Fremdpräferenz und Inklusivität. Dies geht so weit, dass etwa Byung-Chul Han bereits das Ende immunologischen Denkens gekommen sieht: In einer Welt, in der alles gleich ist, lässt sich nichts Fremdes und somit auch kein Eindringling in das Eigene mehr identifizieren. Im „negativitätslosen Raum des Gleichen“, so Han in seinem Buch „Müdigkeitsgesellschaft“, findet „keine Polarisierung von Feind und Freund, von Innen und Außen oder von Eigenem und Fremdem“ mehr statt.

Nach der Prophetie von Nietzsches Zarathustra wird der „letzte Mensch“ auf einer zusammengeschrumpften, klein gewordenen Erde herumhüpfen und selber alles klein machen. Sloterdijk spricht von einer „Raumkompression“. Was früher die große Göttin Gaia war, die Erdmutter und Gebärerin der Titanen, ist dem „letzten Menschen“ nicht viel mehr als ein kleiner Ball oder auch nur ein Punkt im Weltraum. Eine gewaltige zentripetale Kraft drängt alle Orte, die dem Menschen Behausung boten, zu einem einzigen homogenen Raum zusammen, reißt alle Grenzen nieder, beseitigt alle Entfernungen. Bereits 1925 beklagte Stefan Zweig in einem kleinen Essay eine zunehmende „Monotonisierung der Welt“: „Alles wird gleichförmiger in den äußeren Lebensformen, alles nivelliert sich auf ein einheitliches kulturelles Schema.“ Diese Monotonisierung hat sich in den knapp hundert Jahren, die seit Zweigs Essay vergangen sind, noch wesentlich verstärkt.
Die philosophische Herkunft der Globalisierung
Die Frage nach den Verantwortlichen für diesen Vorgang dürfte schwierig zu beantworten sein. Glaubt man der Auskunft Peter Sloterdijks, so sind es nicht primär die Entdecker und Händler, sondern Vertreter von Sloterdijks eigener Zunft, welche für die Globalisierung verantwortlich zu machen sind. Das kann man, je nach Sichtweise, entweder als scharfe Selbstkritik oder als Größenwahn eines Philosophen ansehen. Man kann sich aber auch fragen, welchen Wahrheitsgehalt Sloterdijks These von der philosophischen Herkunft der Globalisierung besitzt. Immerhin waren es Philosophen, die bereits in der Antike die Hypothese von der Kugelgestalt der Erde aufstellten – eine Hypothese, die dann spätestens mit der Weltumseglung des Fernando Magellan in den Jahren 1519–1522 endgültig empirisch verifiziert war und in den folgenden Jahrhunderten – im Zeitalter der Entdeckungen – eine geradezu unheimliche Macht entfaltete. Es waren auch Philosophen, etwa Giordano Bruno, die das geozentrische Weltbild in Frage stellten und es durch die Vorstellung eines unendlichen, grenzenlosen Universums ersetzten, in dem alles und nichts Zentrum ist. Und nicht zuletzt waren es Philosophen wie René Descartes, die den Raum mathematisierten und homogenisierten, indem sie ein allgegenwärtiges Koordinatennetz über ihn legten.
Diese drei philosophischen Hypothesen – von der Kugelgestalt der Erde, von der Unendlichkeit eines Universums ohne Zentrum und von der Homogenität des Raumes – sind die zentralen Voraussetzungen für die Revolution des Weltbildes, deren praktische Konsequenz die Globalisierung ist: „Wenn europäische Händler und Helden aufbrachen um ferne Punkte auf dem Globus zu ‚nehmen‘, so konnten sie ihre Entschlüsse nur fassen, sofern der globalisierte Ortsraum bereits als ein homogenes offenes und gangbares Außen entworfen war.“ So gesehen, scheint ein Primat der philosophischen Entwürfe und Entdeckungen vor den Entdeckungen der Ingenieure und Seefahrer zu bestehen. Die Fahrten der Entdecker wirkten wiederum auf das Weltbild der Philosophen (und zunehmend auch des Volkes) zurück, bestätigten kühne Entwürfe und bewiesen deren Tragkraft.
Anthropologische Orte vs. Nicht-Orte
Der französische Ethnologe Marc Augé hat (unabhängig von Sloterdijk) die Transformation von „anthropologischen Orten“ in „Nicht-Orte“ geschildert, die sich im Zuge der Globalisierung ereignet: Im Gegensatz zum anthropologischen Ort bietet der Nicht-Ort dem Menschen keine Beheimatung, sondern ist ein bloßer Durchgangsort, ein Knotenpunkt im homogenen Systemraum. Auch Sloterdijk benennt dieses Phänomen: „Zahlreiche Städte, Dörfer, Landschaften transformieren sich de facto zu Stationen eines entgrenzten Verkehrs.“ Eine Erde, die aus Nicht-Orten besteht, kann niemandem mehr Heimat gewähren. Wo alles gleich gemacht ist, wird auch alles gleich-gültig. In einem unendlichen, homogenen Raum fallen alle Orientierungen weg. Diese werden, genau genommen, zu bloßen menschlichen Setzungen, die auch ganz anders sein könnten und damit stets zur Disposition stehen. Wo es, wie im unendlichen Raum, kein festes Oben, Unten, Rechts und Links mehr gibt, sind der horror vacui und ein gewisses Schwindelgefühl unvermeidlich. Gerade dieses Extrem macht erneut deutlich, dass der Mensch eben nicht an Nicht-Orten leben kann, dass er vielmehr feste Behausungen, anthropologische Orte braucht: Immunität, Selbstpräferenz und Exklusivität.
Der Kapitalfluss und seine Hindernisse
Was die Philosophen mit ihren Hypothesen vorbereiteten, vollendeten die neuzeitlichen Ingenieure, Seefahrer, Entdecker und Händler. Dazu Sloterdijk: „Jeder empirische Ort auf der Erdoberfläche wird potentiell zu einer Adresse des Kapitals, das sämtliche Raumpunkte unter dem Aspekt ihrer Erreichbarkeit für technische und ökonomische Maßnahmen betrachtet.“ Das Geld erweist sich dabei als das universelle Transformationsmedium, es transformiert alles in alles und macht dabei alles einander gleichartig. Der Unendlichkeit und Grenzenlosigkeit des Raumes in der Neuzeit entspricht die Unendlichkeit und Grenzenlosigkeit der Zeit und des Wachstums von Kapital. Das Kapital macht Menschen, Dinge und Orte fungibel, also austauschbar und ersetzbar. Alles wird damit potentiell auch käuflich.
Selbstverständlich trifft die entgrenzte und zunehmend beschleunigte „Zirkulation“ von Waren, Informationen, Kapital und Menschen auch auf Hindernisse. Zu diesen Hindernissen gehört die Vielfalt der lokalen Kulturen, deren organisch gewachsene Sprachen dem Fremden gegenüber zwangsläufig exkludierend wirken. Sloterdijk sagt über die Sprachen: „Anstößig sind diese trägen symbolischen Systeme, da sie sich der Forderung nach Kompression und Beschleunigung nicht ohne weiteres beugen.“ Die Vielfalt der Sprachen muss also im Zuge der Globalisierung der Einfalt des „Globalesischen“, einem technischen, rein funktionellen Englisch weichen – ein von dem Sprachwissenschaftler Jürgen Trabant in seinem Buch „Sprachdämmerung“ beschriebener und kritisierter Vorgang.
Wider die menschliche Natur?
Wenn die anfangs zitierten und von Sloterdijk aktualisierten Erkenntnisse der philosophischen Anthropologie einen gewissen Wahrheitsgehalt besitzen, dann ist die einseitige Präferenz des Fremden, seine universelle Inklusion bei nahezu völliger Immunitätsvergessenheit, geradezu wider die menschliche Natur. Es bedürfte eines Gegengewichts, welches das Pendel der anthropologischen Balance erneut gleichmäßiger schwingen lässt. Es stellt sich jedoch die Frage, ob die Globalisierung bereits einen point of no return überschritten hat, an dem ihre Verfechter sagen können, was einst Karl Kautsky über den Sozialismus sagte: „Ist aber die Globalisierung eine gesellschaftliche Notwendigkeit, dann wäre, wenn sie in Konflikt mit der Menschennatur käme, diese es, die den Kürzeren ziehen würde und nicht die Globalisierung.“
Darauf ist zu erwidern, dass die Globalisierung ebenso wenig wie der Sozialismus eine gesellschaftliche Notwendigkeit ist. Jeder Fatalismus wäre fehl am Platz, denn die menschliche Natur könnte sich als Grenze der Globalisierung erweisen. Weil der Mensch ein leiblich verortetes Wesen ist, das in der Regel das Eigene dem Fremden vorzieht, ist ein „Backlash“ nahezu unvermeidlich. Dem stehen post- und transhumanistische Kräfte entgegen, für die Verweise auf unüberschreitbare Grenzen in der menschlichen Natur nur sentimentale Reminiszenzen an eine längst überwundene Vergangenheit darstellen. Man kann auch die bange Frage stellen, ob die Unterscheidung zwischen dem Eigenen und dem Fremden nicht selbst schon – angesichts der universellen Gleichmacherei – eine bloße Fiktion oder eine Erinnerung an längst zubetonierte Bruchlinien darstellt. Dann aber wäre die anfangs erwähnte Spannung und Polarität in der menschlichen Natur selbst bereits am Verschwinden.
Schöne neue Welt
Wäre es angesichts dieser Gefahren nicht besser, sich mit dem nahezu Unvermeidlichen abzufinden und die guten Seiten der Globalisierung in den Vordergrund zu stellen? Wer möchte schon zurück in jene Zeiten, in denen Dorfgemeinschaft und Sippe den Freiheitsdrang des Einzelnen nahezu erstickten? Wer möchte nicht gerne den Provinzialismus seiner Vorfahren, für die im Nachbardorf bereits die Fremde begann, gegen den Kosmopolitismus der Gegenwart eintauschen? Wird der Verlust der Heimat nicht durch den Gewinn der Internationalität kompensiert, durch eine universelle Offenheit für fremde Menschen, Kulturen, Sprachen? Lässt die Globalisierung die Vereinigung aller Menschen nicht zum Greifen nahe erscheinen? Hierauf erwiderte bereits Jean Améry in seinem wichtigen Essay „Wieviel Heimat braucht der Mensch?“: „Oberflächliche, durch Tourismus und Geschäftsreisen erworbene Welt- und Sprachenkenntnis ist keine Kompensation für Heimat.“ Und Heimat ist nun einmal nicht zu haben ohne ein gewisses Maß von trotzigem Haften am Eigenen. Améry jedenfalls kommt am Ende seines Essays zu dem nüchternen und realistischen Fazit: „Es ist nicht gut, keine Heimat zu haben.“ Und was die Utopie einer universellen Menschheitsverbrüderung angeht, so wird sie sich wohl kaum realisieren lassen, ohne den Widerstand derjenigen gewaltsam zu brechen, die eben nicht am Tisch der befriedeten Menschheit sitzen wollen – vielleicht deshalb, weil sie sich mit dem endgültigen Verlust ihrer Heimat noch nicht abgefunden haben.
Natürlich kennt die Planierung und Nivellierung der Welt durch die Globalisierung auch Gewinner, nämlich diejenigen, denen es gelingt, eine „Umstellung von Zugehörigkeiten auf Optionen“ zu vollziehen, wie Sloterdijk formuliert. Dem glücklichen Kosmopoliten mag es genügen, nirgendwo fest dazuzugehören und nur temporäre, optionale Verbindungen mit anderen Menschen einzugehen. Er mag den „Provinzialismus“ jener belächeln, die sich noch nicht mit dem Verlust ihrer Heimat abgefunden haben. Aber vielleicht ergreift auch den glücklichen Kosmopoliten gelegentlich in der Tiefe seines Herzens ein Schaudern und Grauen angesichts der Unendlichkeit, die nirgendwo mehr Halt bietet, und er fühlt sich wie ein Astronaut, der im leeren Weltraum einem ungewissen Schicksal entgegen treibt.
Das Primat der Lebenswelt
Wenn es die Philosophen waren, die vor Jahrhunderten den ersten Anstoß zur Globalisierung gegeben haben, dann könnte es sein, dass auch von ihnen heute ein erster Anstoß zur Begrenzung der Entgrenzung ausgeht. Sloterdijk zitiert die Phänomenologen Martin Heidegger, Maurice Merleau-Ponty und Hermann Schmitz mit ihrem Lob des Wohnens und formuliert selbst: „Mit dem einwohnenden Weltverhältnis ist – die maßgeblichen Raumdenker des 20. Jahrhunderts haben es gezeigt – stets eine interieurbildende Aktivität, eine ent-fernende Praxis (im Sinne Heideggers) und eine befriedende Kultivierung (im Sinne von Schmitz) verbunden.“ Vielleicht empfängt die Einhegung der entfesselten und entgleisenden Globalisierung wesentliche Impulse von einem neuen Raumdenken, dem es gelingt, aufzuzeigen: Jener unendliche, homogene Raum, den die Philosophie der Neuzeit entworfen hat, ist eine Abstraktion und beruht auf dem bewohnbaren, Orientierung und Beheimatung gewährenden Raum der menschlichen Lebenswelt. Nur wer von einem festen Boden ausgeht, kann gelegentlich Höhenflüge wagen.
Alle Zitate von Peter Sloterdijk sind entnommen aus dessen Buch Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung (Erstausgabe 2005).
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Über den Autor: DANIEL ZÖLLNER, Dr. phil., ist freier Autor und Lektor (daniel-zoellner.de). Studium der Philosophie und der Neueren deutschen Literatur in Tübingen und an der University of Essex (Colchester). 2025 Promotion in Innsbruck mit einer philosophischen Untersuchung unter dem Titel „Globalisierung und Phänomenologie der Welt. Husserl – Heidegger – Rombach“. Betreut den Logbuch-Blog des Lepanto-Verlags. Ende 2024 erschien bei Lepanto Mut zur Tugend. Essays zur Lebenskunst in der Gegenwart. Weitere Publikationen u. a. in verschiedenen Sammelbänden und in der Tagespost.
Titel- und Beitragsfoto im Original: Peter Christian Riemann, CC BY-SA 4.0
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