Marc Pommerening: LIEBEVOLLE HASSREDE – DER ROMAN „DRECKSWELT“ VON TILL RÖCKE
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Zu Friedrich Wolters oder zu Ricarda Huchs „Im alten Reich“ mag greifen, wer die Kulturlandschaft an Rhein und Ruhr vor ihrer Verwandlung in ein apokalyptisches Wasteland erkunden möchte; aus Till Röckes „Dreckswelt“ erfährt man, wie es ist, in ihm zu leben.
Während der Protagonist in Röckes Debüt „Schlund“ noch einen – wenn auch befremdlichen – Namen trug, ist der Insasse seiner „Dreckswelt“ ein Niemand. Als freier Mitarbeiter einer Werbeagentur nennt er sich „den letzten Rest-Menschen im Gehege“ und kompensiert seine umfassende Entfremdung mit einer von Selbsthass und Lebensekel triefenden Suada, einer
großartig-großkotzigen Weltverdammungsrede, die in ihrem Furor anrührend wirkt.
Röckes Held hasst herzhaft. Die bei Politgouvernanten so verpönte Hassrede wird liebevoll, aber insgeheim gepflegt: Undenkbar, dass er sie hinausschrie, teilte, zum Thema machte. Sein Hass gehört ihm allein und beginnt mit ihm selbst, seinem Krüppelkörper, samt Penis („ein Kringel“), erstreckt sich auf den treuen Gefährten seiner Irrfahrten, den von einem tschetschenischen Friseur vermittelten Ford Mondeo, seine Eltern („Kriminelle“), seine Mitschüler („Klassenfeinde“), Migranten, Rentner, Freilichtschauspieler, Wuppertal (zu Recht) und Berlin (das er eher fürchtet). Sein Hass ist offenbar ein Ventil; weil er Dampf ablässt, bleibt er auf Kurs. Gerade sein Hass stabilisiert ihn.
Heimatbuch eines Entfremdeten
Man kann die „Dreckswelt“ als Fegefeuer deuten, und Röckes Text als Verzweiflungsschrei eines Gottsuchers; man kann sie aber auch als neoliberale Arbeitsdreckswelt begreifen, in der ein talentierter Schreiber zur Hure eines „Head of Content“ gemacht wird. Mein Vorschlag wäre, „Dreckswelt“ als das Heimatbuch eines umfassend Entfremdeten zu lesen.
Denn das Buch hat einen begrenzten Horizont. NRW wird zur Weltbühne, Preußen ist ein seit jeher drohender Feind aus Nordost, der, mit „teuflischer Magie“ ausgestattet, für jeden Missstand herhalten muss und schließlich in einem apart verkommenen Binnenschiffer aus Berlin Gestalt wird, einer grotesk-dämonischen Märchenfigur, bei der Röcke sich einen Perspektivwechsel gestattet.
Till Röcke ist Rheinländer, wie Thomas Bernhard Österreicher. Und wie Thomas Bernhards vorgeblicher Hass eine tiefe Liebe zu Österreich bemäntelt, gilt Röckes Mitgefühl seinen Landsleuten an Rhein und Ruhr. „Dreckswelt“ ist ihr Schwanengesang und die beklemmend-intensive Schlachtung einer Schwanenfamilie durch Obdachlose wirkt allegorisch: Weil es in der Dreckswelt nichts zu suchen hat und Alternativen aufscheinen lässt, muss das Schöne vernichtet werden.
Krächz-Laute aufs Parkett gekotzt
Röcke gestaltet das Drama des Nichthandelns. „Dreckswelt“ ist ein invertierter Entwicklungsroman und deshalb ist das Buch komisch. Denn sein Niemand kommt vor Klagen nie aus dem Knick. Nie erwägt dieser motorisierte Flaneur die schützende Panzerung seines Ford Mondeo zu verlassen und etwa einen Psychiater, einen Beichtstuhl, die Ortsversammlung einer trotzkistischen Splitterpartei oder die Bürgersprechstunde von Matthias Helferich aufzusuchen. Wenn ein Rezensent den Protagonisten „packen, schütteln, aus seinem Selbstmitleid und seiner Lethargie reißen“ möchte, dann wünscht man ihn Röckes Niemand als wohlmeinenden Freund. Aber auch er bisse sich an dessen gusseiserner Larmoyanz die Zähne aus.

Doch auch wenn ein Hilfeschrei unausgesprochen mitschwingt, sein eingefleischter Weltekel ist zu gut formuliert, um ganz aufrichtig zu sein. Der Schrei ist geformt, der Wortschlamm gefroren. Und diese Kälte macht die Suada zur Kunst, den Text für uns Leser kommensurabel und seinen Protagonisten zur komischen Figur – zum Existentialclown, dem sein Leiden an der Welt zum Spielmaterial geworden ist.
Er bedient sich aus dem neoliberalen Jargon der Werbeagentur, aus der von Anglizismen durchsetzten Umgangssprache und der durchaus bildungsbürgerlichen, gehobenen Diktion von einst. Seine komische Schärfe bekommt der Text durch die Konfrontation mittels Montage: Etwa wenn er „Krächz-Laute aufs Parkett“ kotzt, die eine „spezielle und ätzende Lache“ werden, „die sein Bewusstsein wundersam neckte“. Wie bei Celine finden sich plötzliche, fast erschreckende Momente von Schönheit, hier im bewussten Rückgriff auf die Tradition: Krass montiert an „Seine Nasenscheidewände glühten“ heißt es „Alt und bildgewaltig trieb der Rückruf sein erlittenes Dasein hervor.“
So ortsgebunden Röckes Dreckswelt ist, so zeitlos kommt sie daher. Verwerfungen der jüngsten Vergangenheit bleiben unerwähnt, denn es sind Bekenntnisse eines Unpolitischen, die in „Dreckswelt“ formuliert werden – und darin liegt die politische Relevanz des Buches. Mal kokett, mal wollüstig äußert sich ein spezifisch bundesdeutscher Selbsthass, der sich labt am süßen Gift der gewohnten Passivität. Denn was gern und hilflos als Boomer-Mentalität zum Generationskonflikt umgefälscht wird, ist die Blindheit des gelernten Bundesbürgers: Man will den Elefant im Raum und den Dschungel vor lauter Eichen nicht sehen. Man führt Beschwerde, als wäre das Recht auf ein glückliches Leben einklagbar. Und man wütet gegen das Eigene, die ererbte Schönheit, der man nichts Gleichwertiges an die Seite zu stellen vermag. Beim Gedanken ans im alliierten Bombenhagel brennende Wuppertal wird Röckes Niemand „warm ums Herz“ – und in die Amerikanische Siedlung von Plittersdorf ziehen Kamele ein, deren Anblick ihn zwar verstört, aber nur zum Rückzug in ein „verborgenes Kraftfeld in seinem Innersten“ verleitet, denn: „Das Problem lag im Wollen.“ In der Tat.
Dreckswelt für Dulder
Indem er, ohne schwimmen zu können, ein im Fluss treibendes Kind retten will und beim Versuch ertrinkt, ermannt sich Kästners Fabian zu einer schönen, da sinnlosen Tat. Sein Nachgeborener, Röckes Niemand, kommt gar nicht erst auf die Idee, einem ertrinkenden Rentner irgendwie beizuspringen. BRD-Rentner schließlich „kennen keinen Schmerz. BRD-Rentner sterben immer wieder.“ Und so „justierte“ er „den Knoten am Schlips und fummelte sich die Manschetten gerade“; gut, dass man vor dem just erfahrenen Leid in eine allgemein gehaltene Weltverdammungsetüde zu „Mutter Erde und ihren kranken Menschentieren“ ausbüchsen kann. „Er riss sich zusammen.“ Das bleibt.
„Keiner war bei ihm als seine Toten und deren Sprache hatte er verlernt. Keine Erde trug ihn; keine Geschichte entsühnte ihn, keine Bildung war seine; sein Held war: der Dulder.“ – in Theodor Lessings 1930 erschienener, alarmsirenenschriller Analyse „Der jüdische Selbsthass“ finden wir – das zu Ändernde geändert – den von Röcke gestalteten Typus vorgeprägt.
„Das Problem; die Leute machen nicht“, so der sehr linke, in die sterbende DDR emigrierte Ronald M. Schernikau. Warum seinerzeit, als es noch möglich war, die autochthonen Deutschen sich nicht aktiver behauptet haben, das könnte chinesische Historiker des 22. Jahrhunderts für Till Röckes „Dreckswelt“ interessieren. Wir Mitlebenden sollten uns vom Zerrbild in Röckes Spiegel nicht abwenden: Dochdoch, das sind wir.
Über den Autor: Marc Pommerening (*1970) arbeitet als Autor und Regisseur. Herausgeber von Rexroths Der Wermutstrauch und Verfasser der Mikroaggressionen (beide Edition Finsterberg).
Hinweis M.P.: Ich schätze Till Röcke als TUMULT-Kollegen und Autor der Edition Finsterberg. Den Vorwurf einer Gefälligkeitsrezension nehme ich für ein so gelungenes Buch gerne in Kauf.
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