Martin Richter: DEMOKRATISCHE MONARCHIE – DIE IRRIGE GLEICHSETZUNG VON MEHRHEIT, RECHT UND FREIHEIT
- 23. Juli
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 3. Sept.
Zu den axiomatisch gesetzten Dogmen des nachkriegssozialisierten Homo Bundesrepublicanus gehört die Überzeugung, eine Demokratie mache im Besonderen aus, dass die Mehrheit nicht nur zu Recht über die Zusammensetzung der Parlamente entscheide, sondern dass dieses Gremium dann auch mit seinen Entscheidungen in der Regel richtig liege, zumindest: im aufrechten Selbstverständnis den Volksinteressen diene. Sowohl die Grundlage als auch die Folgen parlamentarischer Entscheidungen scheinen somit legitimiert, vielen gelten sie gar als sakrosankt.

Bei näherer Betrachtung indes ergibt sich, dass diese liebgewonnene These einer Kritik nicht standhält, und zwar weder ihre Voraussetzungen noch ihre vermeintliche Folgerichtigkeit. Denn dass die Mehrheit zu irren vermag, dass sie sogar oft und gerne weit an der demokratischen Kernidee vorbeigreift und einer totalitären Staatsform Tür und Tor öffnet, ist eine Einschätzung, die ex post leicht zu gewinnen ist. Dem zum Trotz aber will die Menschheit einfach nicht klüger werden. Weite Teile unserer Spezies neigen dementsprechend bis heute dazu, blind zu folgen – falschen Instinkten und falschen Propheten.
Heilige Grundrechte
Obwohl zigfach empirisch belegt ist, dass Mehrheiten kein Garant für gute Entscheidungen und Entwicklungen sind, weder in pragmatischer noch in moralischer Hinsicht, betet man diesen Götzen an. Ein trauriger Höhepunkt ist der von Linksaußen krakeelte und von Teilen der Gegenöffentlichkeit leider gleichlautend erwiderte Ausruf „Wir sind mehr“, der ernsthaft als Argument in Anspruch genommen wird. Die demokratische Kernidee ist aber eine völlig andere.
Mit ihr vereinbar ist eben gerade nicht, dass eine Mehrheit von 70 Prozent die Minderheit mit ihren 30 Prozent unter Peitschenhieben zum Bau von Tempel- und Grabanlagen nötigt, dass der eine Teil der Gesellschaft, so groß er auch sei, den anderen wegen andersartiger Auffassungen über die Gefährlichkeit einer Atemwegserkrankung aus dem öffentlichen Raum verbannt oder wegen abseitiger Riten, so skurril sie auch sein mögen, derart drangsaliert, dass das Leben des Außenseiters buchstäblich zur nervlichen Hölle wird. In einer Demokratie im besten Sinn des Wortes gelten Grundrechte, sie gelten für das Individuum, und zwar für jedes Individuum. Diese Grundrechte finden nur da eine Grenze, wo ihre Inanspruchnahme unzweifelhaft das Wohl und die Rechte anderer beschneidet.
„Unzweifelhaft“ ist hier tatsächlich im striktesten Wortsinn zu nehmen. Herrschsucht und Egoprobleme von Politikern globalistisch-autokratischer Parteien sind als Richtmaß für Normabweichler ebenso abzulehnen wie eine verstockte Sexualsozialisation in Afghanistan für Übergriffe im (noch) restzivilisierten Mitteleuropa. Ob ein Querdenker jeden Morgen vor seinem Donald-Trump-Gartenzwerg ein Gebet spricht, ob mein Nachbar an Echsenmenschen, Gnome, den Wolpertinger oder an Ufos glaubt, ist eine Frage des persönlichen Glaubens, vielleicht gar des Geschmacks – jedenfalls hat der Staat diese Bürger nicht an den Pranger zu stellen, sondern, ganz im Gegenteil, die Ausübung ihres „Schwachsinns“ gegen Übergriffe und Eingriffe jedweder Art zu schützen. Jeder noch so attraktiven wie leicht bekleideten Dame hat der Staat zu gewähren, unbehelligt durch Fußgängerzonen zu tanzen – sich ihr unsittlich oder ungebührlich zu nähern, ist weder eine Petitesse noch kulturell eigenwillig, sondern ein Vergehen, das es zu verhindern gilt oder das, nach Misslingen dieses Schrittes, hart zu ahnden ist. Und zwar so hart, dass dem Täter im wahrsten Wortsinn die „Lust“ auf eine Wiederholung seines frevelhaften Tuns vergeht.
Das Wesen der Demokratie
Freiheit und Schutz des menschlichen Individuums und seiner Würde stehen im Pflichtenkatalog des Staates ganz oben. Die Formulierung „demokratischer, freiheitlicher Rechtsstaat“ entpuppt sich bei näherer Betrachtung als Tautologie, weil hier eins das andere nicht nur bedingt, sondern sogar impliziert. Wer keine Rechte hat, ist nicht nur nicht vollumfänglich frei, sondern derart eingeschränkt, dass von „Freiheit“ zu sprechen ein Hohn ist. Der rechtsfreie Raum ist Nährboden des Krieges aller gegen alle. Das ist ein Naturgesetz, nicht etwa die gedanklichen Ausschweifungen im Kuckucksheim fabulierender Philosophen. Ein Rechtsstaat gewährt Freiheiten, er tritt dafür ein, dass diese von allen Bürgern in Anspruch genommen werden können, mehr noch: Er macht sich dafür stark.
Während also zwischen Recht und Freiheit ein wechselseitiger Bedingungs- und wechselwirksamer Kausalzusammenhang besteht, der freiheitliche und der Rechtsstaat tatsächlich ein- und dasselbe sind, mögen die Meinungen darüber, was eine Demokratie ist und wodurch sie sich auszeichnet, auseinandergehen. Unerachtet dessen ist es wohl kaum waghalsig, wenn wir folgende Kerne ihres Wesens herausschälen; auf die hat man sich schließlich, so dachte man zumindest bis 2020, im mehr oder weniger erfolgreich kultivierten Teil Europas geeinigt: freie und geheime Wahlen, große, fast unendliche Artikulations- und Informationsräume, also das Recht auf Meinungsäußerung und -bildung, Gleichheit vor dem Gesetz, die Garantie der Grundrechte.
„Demokratie“ ist kein bloß formaler Begriff, er bezeichnet keinen quantitativen Wert, sondern eine Staatsform, die nicht nur als Rechtssetzungs- und Rechtssicherungsinstanz (Eberhard Günther Schulz) fungiert, sondern hierin eine ihrer vornehmsten Aufgaben hat. Ein zwar inzwischen des Öfteren herausgestelltes, aber immer noch weithin unterschätztes Problem ist ein definitorisches. Es betrifft den Begriff der Mehrheit, der, wenn man sich denn unbedingt auf ihn berufen will, mehr Schwierigkeiten mit sich bringt als der naive Systemglaube suggeriert. Wer oder was ist die Mehrheit überhaupt genau? Wie wird diese Mehrheit ermittelt? Welche Personen oder Gruppen sind in diesem Prozess zugelassen – und zwar auf beiden Seiten, derjenigen, die die Mehrheit ermittelt, und derjenigen, aus der sie besteht? Durch welches Verfahren stellt man fest, was genau die Mehrheit will? Vor allem: Wie gelangt die „Mehrheit“, wie kommt das Volk zu seiner Meinung?
Vitale Volksvertretung
Eine Wahl kann schließlich nur dann wirklich frei sein, wenn vorher uneingeschränkt und umfassend von allen Beteiligten gleichberechtigt berichtet und kommentiert werden darf und wenn diese Quellen vollumfänglich zugänglich sind. Wird hier auch nur geringfügig an einer der vielen Stellschrauben gedreht, werden die Bürger hier auch nur im Ansatz eingeengt, dann ist das nicht weniger als ein Weckruf für Demokraten. Allein deshalb übrigens ist das medial-politische Zwangsgebührensystem der GEZ zutiefst undemokratisch, sowohl prinzipiell als auch in seiner spezifischen Ausprägung heute. Im politischen Wettstreit herrscht in Deutschland a priori Waffenungleichheit.
Was ist zu tun? Wie könnte man die Demokratie in Deutschland wirklich „befördern“, ihr die Vitalität verleihen, die sie so dringend benötigt, um aus der Kombination von sedierten Massen und kaltem Bürgerkrieg herauszukommen? Man müsste endlich mit aller Konsequenz freie Debatten ermöglichen. Vor allem aber müsste sich diese Gesellschaft ehrlich machen und akzeptieren, dass sie sich anti-demokratisch verrannt hat. Sie sollte auch einsehen, dass nicht die Größe einer Volksvertretung zählt, sondern die Art und Weise ihres Zustandekommens und ihre Entscheidungen – das ist ihre Legitimation, a priori und ex post. In beidem ist diese Gesellschaft gescheitert; tendenziell seit Jahrzehnten, absolut seit Jahren.
Über den Autor: Martin Richter (M.A.) studierte Philosophie und Geschichte. Er schloss sein Studium mit einer Arbeit zu Kants kategorischem Imperativ bei E. G. Schulz ab, dessen Lehrer Julius Ebbinghaus und Klaus Reich als Legenden der Kant-Forschung gelten. Richter arbeitete bei Compact, für die Gegenuni und Recherche D, nachdem er 15 Jahre als Lehrer, Dozent und Trainer tätig war.
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Beitragsbild aus dem Bundesarchiv, B 145 Bild-F016486-0005 / Gerhard Heisler / CC-BY-SA 3.0