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Thomas Hartung: DIE 44 IST PFUI, DER TAUHID-FINGER HINGEGEN HUI

Weil die Typographie der Nr. 44 auf dem neuen Nationaltrikot woke Aktivisten an „SS“ erinnert, zieht es der DFB zurück – am 1. April. Dazu kämpft eine Fashion-Initiative gegen „Nazi-Kleidung“, zu der nun auch Hawaiihemden gehören. Die deutsche Realität hat 2024 Aprilscherzniveau angenommen.                                                              





„Wie wütend manche Deutsche werden können, weil sie sich so gefreut haben, mit SS-Logo rumzulaufen, und sie jetzt Opi von der Waffen-SS nicht ‚ehren‘ können.“ Mit diesem ernst gemeinten Tweet freute sich der Aktivist Tobias Huch über die Folgen seiner „investigativen Recherche“ bei Adidas. Der windige, wegen Steuerhinterziehung vorbestrafte FDP-Politiker und Flüchtlingshelfer hatte folgende Presseanfrage an den Ausrüster des Deutschen Fußballbunds DFB gestellt und sie wegen ausbleibender Antwort nach zwei Tagen öffentlich gemacht: „Wird Adidas die Nummer 44 in ihrem Shop sperren? Wird Adidas Partnershops anweisen, diese Nummer zu sperren? Wird Adidas schon vorhandene Bestellungen stornieren? Wie viele Bestellungen mit der Rückennummer 44 gab es schon?“


Hintergrund: Der DFB hatte Mitte März vor den beiden Länderspielen in Frankreich (2:0) und gegen die Niederlande (2:1) seine neuen EM-Trikots vorgestellt und bereits mit dem pink gehaltenen Auswärtsdress – die Farbe soll laut Adidas für die „Vielfalt Deutschlands“ stehen – einen  Aufschrei mit nachfolgender Kontroverse verursacht. So sprach der Agenturchef der Hirschengroup, Marcel Loko, im Spiegel von einer „neumodische[n] Entscheidung, die ‚zu wenig zeitlos‘“ sei: „Es wird leichtfertig mit zentralen Werten und Symbolen umgegangen“, eine weitere Gefahr der Politisierung bestünde. „Die neuen DFB-Trikots stehen sinnbildlich für das Erschlaffen und Erstarren unseres Landes“, meinte gar Adriano Sack in der Welt. Für das Design der Namen und der Nummern zeichnet der DFB mit seinem Partner 11teamsports verantwortlich. Dass die Typografie rund zwei Wochen lang niemandem auffiel, spricht schon Bände über den Empörungsgehalt. Denn: „Der DFB prüft die Nummern 0–9 und reicht anschließend die Nummern 1–26 bei der Uefa zur Prüfung ein. Keine der beteiligten Parteien hat im Entstehungsprozess des Trikotdesigns eine Nähe zu einer NS-Symbolik gesehen“, hatte der Verband im Anschluss mitgeteilt. Bei beiden Prüfungen habe es keine Beanstandungen gegeben.


Alle Kleidungsstücke nun lassen sich im Fanshop personalisieren, also mit einem beliebigen Namen bestellen, der dann aufgedruckt und ab 97,00 € aufwärts frei Haus geliefert wird – Huch halluzinierte in seinem Tweet den Namen „Waffen“. Das ist kein Witz. Prompt entbrannte in Windeseile eine Kontroverse, ob die „4“ tatsächlich an die Sig-Rune erinnert – und warum die viel näher liegende „5“ nicht betroffen ist. Adidas-Sprecher Oliver Brüggen wies „alle Andeutungen, dass dies unsere Absicht war, entschieden zurück […] Bei Adidas arbeiten Menschen aus rund 100 Nationen, unser Unternehmen steht für die Förderung von Vielfalt und Inklusion, und wir setzen uns als Unternehmen aktiv gegen Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Gewalt und Hass in jeder Form ein. Alle Versuche, spaltende oder ausgrenzende Ansichten zu fördern, sind nicht Teil unserer Werte als Marke.“


Die woke Liturgie verlangt wohl, dass der gesamte Cantus vorgetragen wird, damit die Sünde vergeben werden kann. Man nehme die Hinweise „sehr ernst“ und möchte „keine Plattform für Diskussionen bieten“, hieß es ähnlich salbungsvoll, aber mit Basta-Duktus seitens des DFB: „Allein die öffentliche Diskussion, dass es eine optische Nähe geben könnte, genügt uns, einen Veränderungsprozess anzustoßen“. Deshalb würde ein alternatives Design der Nummer 4 entwickelt: Die zur Halbzeit eingewechselte Nationalspielerin Bibiane Schulze Solano trug das neugestaltete Trikot bereits Anfang April beim 3:2-Sieg der Frauen-Auswahl gegen Österreich in Linz. Im Adidas-Store war eine Personalisierung der Trikots mit eigenem Namen und Nummer umgehend nicht mehr möglich, der DFB stoppte im eigenen Onlineshop eilends die Auslieferung von bestellten Kombinationen mit der 44.


Ästhetik des Nationalsozialismus


Dieser erneute Coup weniger empörungssüchtiger Linksaktivisten, die in einem geneigten sozialen Klima einen als „Debatte“ getarnten Shitstorm auslösen können, vor dem bundes-, ja weltweit agierende Institutionen ohne Diskussion einknicken, ist zunächst das aktuellste Indiz einer kommunikativen Machttechnik, die der Sprachwissenschaftler Holger Schmitt treffend „Implikatur“ nennt: „Ich sag’s nicht direkt, aber es ist schon klar, was gemeint ist“ („Von ‚Rechtsextremisten‘ und ‚Verschwörungsideologen‘. Wie die Medien aus Andersdenkenden Feindbilder machen“, Uhingen: GHV 2024). Indem Huch im Stile eines obsessiven Nazijägers die Runen-Interpretation der „44“ rein visuell ohne argumentative Beweise unterstellt („impliziert“), bringt er Produzenten und Distribuenten in emotional-moralischen Zugzwang ohne Möglichkeit der Richtigstellung: die würde öffentlich als ebenso falsch wie unmoralisch wahrgenommen, in diesem Falle gar als wohlwollender Bezug zu einem Terror- und Unterdrückungsorgan des Nationalsozialismus, das in den Nürnberger Prozessen als „verbrecherische Organisationsform“ gebrandmarkt wurde.


Die Causa erinnert an den sächsischen „Polizeiskandal“ 2017: Der Chefredakteur des Leipziger Stadtmagazins Kreuzer, Andreas Raabe, twitterte in der Vorweihnachtswoche ein schon Tage zuvor verbreitetes Agenturbild von der Inbetriebnahme des neuen sächsischen Antiterrorpanzers „Survivor R“, genauer: der Lehnen der Panzersitze mit einem historisierend gestickten Logo. Darauf zu sehen war je ein gekröntes und von zwei Löwen gehaltenes sächsisches Wappen, umringt von einem Lorbeerkranz und stilisierten Adlerschwingen, oben und unten gerahmt mit dem Schriftzug „Spezialeinsatzkommando“ und „Sachsen“ jeweils in einer gebrochenen, frakturähnlichen Schrift – einer Schrift übrigens, die Hitler am 3. Januar 1941 in einer Runde mit Max Amann, Verleger und Herausgeber des „Völkischen Beobachter“, Präsident der Reichsschrifttumskammer und Reichsleiter für die Presse der NSDAP, und dem Druckereibesitzer Adolf Müller, der den „Völkischen Beobachter“ druckte, verbot. Das Gremium beschloss – natürlich erfolgreich –, die Antiqua als „Normal-Schrift” im Reich durchzusetzen.


Raabe versah seinen Tweet dennoch mit dem Spin „Fast wie früher ... fehlen nur Adler und Kreuz.“ Das saß. Die mediale Aufregung überraschte selbst den Urheber, der bis dahin gerade 120 Follower hatte und auf seiner Homepage protzte: „Als Kind war ich vorbildlicher Jungpionier. In meiner Jugend habe ich Häuser besetzt.“ Im Onlineauftritt seines Mediums beschreibt er die Geschehnisse hinterher so: „Zwei Stunden später hat Jan Böhmermann meine Nachricht retweetet und am nächsten Tag war die Geschichte Top-Meldung bei Spiegel-Online und meistgelesener Beitrag auf Tagesschau.de. Außerdem wurde der sächsische Innenminister gefeuert, was aber vermutlich eher eine Koinzidenz war.“ Das Logo erinnere „stark an die Ästhetik des Nationalsozialismus“, so der Spiegel. Es sei erschreckend, dass „die an die NS-Zeit erinnernde Symbolik offenkundig durch niemanden bei Polizei und Innenministerium als Problem gesehen“ wird, trötete prompt Sachsens Linken-Vize Silvio Lang. Das war auch kein Witz.


Nun also zwei Runen, deren Gebrauch in Deutschland nach § 86/86a StGB als „Verbreiten von Propagandamitteln“ oder das „Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen“ strafbar ist – als ob sich Sportverband und Markenglobalist, beide mit Heeren von Juristen ausgestattet, freiwillig diesen Tatbeständen ausgesetzt hätten! Die Online-Kommentare dazu bspw. bei der Welt waren entsprechend verheerend und changierten in der Tonalität zwischen „Da will ich hoffen, KISS ändern auch ihren Schriftzug“ über „In Deutschland ist inzwischen jeden Tag 1. April“ bis „Betroffenheitskultur, Opportunismus und Wokeness im Zeitalter des Internets zeigen, was vermutet wird, aber nicht mehr, was ist.“ „Könnte man nicht auf die Trikots chinesische Schriftzeichen oder römische Zahlen aufbringen, die müssten doch unverfänglicher sein“, lästert einer, „Ist denn ‚Spielführer‘ noch erlaubt“ ein zweiter, „Alle Schnapszahlen sind rechts, oder?“, ein Dritter, „Sollen wir die, die ein solches Trikot schon besitzen melden? Und wo? Wir brauchen noch genauere Anweisungen“, ein Vierter, „Kommt der DFB nun auch in den Genuss der Demokratieförderung?“, ein Fünfter.


Es gibt keinen Gott außer Allah


Dabei weist der Vorgang gleich zwei G’schmäckle auf. Historisch mit Blick auf Ende 2020, als Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) die „Sturmbrigade 44“ (auch „Wolfsbrigade 44“) verbot. Die Zahl 44 im Namen der Gruppe stehe als Code für den vierten Buchstaben im Alphabet – DD als Abkürzung für „Division Dirlewanger“ und bezieht sich auf einen als besonders sadistisch berüchtigten Kriegsverbrecher und Kommandeur einer Sondereinheit der Waffen-SS, Oskar Dirlewanger. Ziel der Gruppierung sei ein „Wiedererstarken eines freien Vaterlandes“ nach dem „germanischen Sittengesetz“, hatte die Bundesregierung in einer früheren Auskunft auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion ausgeführt. Pikant: die Gruppe hatte gerade 13 Mitglieder in vier Bundesländern; das Verwaltungsgericht Halle und in zweiter Instanz auch das Oberverwaltungsgericht in Magdeburg hatten jedoch – anders als die Verwaltungsgerichte in den anderen drei – in Sachsen-Anhalt keine ausreichende Grundlage für Durchsuchungsbeschlüsse erkannt. Nach einem Tag Empörung war das Thema damals verschwunden, Parallelen zum DFB heute tunlichst vermieden worden.


Und aktuell durch einen Instagram-Post von Nationalspieler Antonio Rüdiger. Zum Beginn des Ramadan am 11. März veröffentlichte er ein Bild, in dem er in traditioneller islamischer Gebetskleidung mit nach oben ausgestrecktem Zeigefinger seiner erhobenen rechten Hand („Tauhid-Finger“) auf einem Gebetsteppich kniete. Dabei stand „Ramadan Mubarak to all Muslims around the world. May the almighty accept our fasting and prayers # AlwaysBelieve“. Dieses Bild teilte Ex-Bild-Chef Julian Reichelt bei X (vormals Twitter) anlässlich der Bekanntgabe der Startelf des Länderspiels Deutschlands gegen Frankreich mit dem Text „Islamismus heute Abend in der deutschen Start-Elf. Das ist die Ideologie, die alles mit Regenbogen-Farben vom Dach wirft und Frauen steinigt. Antonio Rüdiger sollte uns mehr besorgen als ein Nike-Trikot.“ Tags darauf legte er nach mit einem Post, der das von Rüdiger veröffentlichte Bild um eine Broschüre des Bundesamts für Verfassungsschutz ergänzte, in der ein Bild von die „Tauhid“-Geste zeigenden IS-Kriegern mit der Bildunterschrift „IS-Kämpfer zeigen den sogenannten IS-Finger“ versehen ist.


Dazu schrieb Reichelt: „Für alle, die beim Islamisten-Gruß von Antonio Rüdiger keinen Islamismus erkennen wollen: Der Verfassungsschutz nennt diese Geste den ‚IS-Finger‘ und wertet den Zeigefinger als klares Zeichen für Islamismus. Man kann es nicht schönreden, der DFB muss sich dazu äußern.“ Der tat das auch – aber anders, als sicher von Reichelt erwartet: Auf dessen Posts erstatteten sowohl Rüdiger als auch der DFB Strafanzeige „wegen Beleidigung bzw. Verleumdung, verhetzender Beleidigung sowie Volksverhetzung“. Gegenüber Bild teilten Rüdigers Anwälte mit, er sei „als überzeugter Gläubiger ein friedliebender Mensch“, der jede Art der Gewalt ablehne. Die Geste als „Islamisten-Gruß“ zu werten, sei „falsch, verkürzt“ und wolle „bewusst polarisieren“. Es handle sich um die Tauhid-Geste, die sinngemäß bedeutet: „Es gibt keinen Gott außer Allah“.


Innenministerin Nancy Faeser (SPD) warnt im BR vor einer „Überbewertung“, von einem „komplizierten Zeigefinger“ schreibt Johan Schloemann in der Süddeutschen, und Heike Vowinkel meint auf t-online, dass Reichelt „damit durchschaubar eine Internetmeute füttert, auf die er mit zunehmendem Bedeutungsverlust zunehmend angewiesen“ sei. Weder in diesen noch anderen Medien tauchte dagegen das Bild des nachmaligen Breitscheidplatz-Attentäters Anis Amri auf, das ihn mit drei Freunden und genau dieser Geste zeigt. „Auf Grundlage des öffentlich Bekannten spricht alles dafür, dass ein auf die Anzeige Rüdigers und des DFB etwa eingeleitetes Ermittlungsverfahren gegen Reichelt gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt werden wird“, resümiert der Hamburger Strafrechtler Yves Georg umgehend auf dem Portal lto.de. Bleibt haften: Der politmediale Komplex relativiert IS-Gesten, eine „falsch“ designte 44 dagegen lässt ihn hyperventilieren.


Hawaiihemden sind rechts


Erstes Fazit: Je länger das Dritte Reich zurückliegt, desto stärker formiert sich hierzulande offenbar der Widerstand dagegen. Dass dieser Schluss kaum übertrieben ist, beweist eine neue Kampagne in der Tradition der Initiative „Brands gegen rechts“ (im Original in Fraktur) der Berliner Fair Fashion-Designerin Natascha von Hirschhausen von 2018. Nach ihren Worten setzten sich damit „Unternehmen gemeinsam für Demokratieförderung und gegen Faschismus ein. Durch das Spenden von Produkten sollte Geld gesammelt werden, um politische Bildung zu unterstützen.“ Gerade 20 Marken beteiligten sich, die Initiative verschwand sang- und klanglos wieder. Fünf Jahre später also „Fashion against Fascism“.


Das Ziel dieser Initiative nun ist der Aufbau einer Datenbank, die „extrem rechte Symbolik und Codes“ sammelt. Die soll Online-Fashion-Plattformen dabei unterstützen, rechtsextreme Botschaften in der Modeindustrie zu erkennen – und ähnlich dem adidas-Produktionsstopp der „44“ zu verhindern. Hinter dem Projekt stehen der Hamburger Verein „Laut gegen Nazis“ und – die Werbeagentur Jung von Matt, die einst für die CDU Bundestagswahlkampf machte. Beteiligt sind außerdem weitere Modeunternehmen wie About You, Avocadostore, Baur und Spread Group; als prominenter Unterstützer fungiert seit Anfang April zalando. Der Onlinehändler stehe „für Vielfalt, Inklusion, Respekt und Offenheit“, sagt Pascal Brun von Zalando dem Tagesspiegel. Die Integration der Datenbank in die eigenen Systeme soll es Zalando ermöglichen, den „Rechtsextremismus und seine sich ständig verändernden Symbole auf der Plattform noch aktiver zu bekämpfen“. Kleidung mit Erkennungszeichen der rechten Szene werde nicht verkauft.


„Fashion against Fascism“ versteht sich außerdem als Folgeprojekt zur Kampagne „Recht gegen rechts“, die das Ziel verfolgte, bei Rechtsextremisten beliebte Wortmarken patentrechtlich schützen zu lassen, um ihre Verwendung zu verhindern. Dazu gehören zum Beispiel „HKNKRZ“ oder „I Love Htlr“, die mit dem eher links verorteten graphostilistischen Mittel der Vokalreduktion spielen („FCK NZS“). Die Rechte für „VTRLAND“ konnte sich der Verein sichern. Beim Blick auf die neue Datenbank allerdings offenbaren sich bei der laut Eigenwerbung „sorgfältig kuratierten Liste“ von rund 200 „Codes“ intellektuelle, politische, linguistische und historische Abgründe – obwohl „ein Ex-Nazi und weitere Szenekenner“ dafür sorgen, „dass die Datenbank rechtsextreme Botschaften korrekt und effektiv entlarvt“.


Allein je ein Beispiel der ersten drei Buchstaben unseres Alphabets mag reichen, diese Abgründe zu illustrieren. So sei das Adjektiv „absurd“ der Code für eine „deutsche NSBM-Gruppe um Hendrik Möbus, durch einen Mord bekannt geworden“; das Akronym wiederum stünde für „National Socialist Black Metal“. Sozialistisch? Aha. Geht es nicht um Rechtsextremismus? Die lautmalerische Wortfolge „Big Luau“ sei „ein gebräuchlicher Spitzname für die Boogaloo-Bewegung … Der Begriff ist die Inspiration für einen Großteil der hawaiianischen Ästhetik der Bewegung, einschließlich ihrer Hawaiihemden.“ Hawaiihemden sind rechtsextrem? Das ist auch kein Witz. Und „CI“ stünde für die „antisemitische Bewegung Christian Identity (christliche Identität)“. Sie setze weiße und christliche Identität gleich, „wodurch gleichzeitig allein Christen als ein angebliches ‚auserwähltes Volk‘ bezeichnet und Juden ausgeschlossen werden, da diese nach Ansicht der Rechtsextremisten von Tieren oder dem Satan abstammen.“ Der „Disclaimer: Kann auch für Corporate Identity stehen“ ändert an der Surrealität dieses Eintrags, ja der gesamten Liste nichts. Eine ähnliche Liste publizierte Anfang April auch Martin Thiele im Stern. Er nennt etwa „168:1“ als Verweis auf den antisemitischen Sprengstoff-Anschlag von Oklahoma mit 168 Toten, „14“ als rassistische Losung des US-Rechtsextremisten David Lane („14 Words“) und „13/47“ als „mit deutschem Gruß“. Mehr publizistische Allgemein-, falsch, antifaschistische Spezialbildung war selten.


AfD-Look mit Anzug und Perlenkette


Wer meint, dass sich diese hanebüchenen Zuschreibungen nicht noch steigern lassen, muss sich durch den zwangsgebührenfinanzierten DF eines Besseren belehren lassen. Lars Hendrik Beger produzierte bei dem öffentlich-rechtlichen Sender Anfang April unter dem Titel „Kampf um kulturelle Hegemonie“ das Feature „Wie die Neue Rechte sich der Popkultur bedient“. Unter den darin Interviewten ist auch Elke Gaugele, Professorin an der Akademie der Bildenden Künste in Wien – eine deutsche Hochschullehrerin hätte sich mit ihren Zitaten der akademischen Lächerlichkeit preisgegeben. 1989 hätten es Neonazis und Rechtsextreme extrem gut verstanden, mit Mode Gemeinschaften zu schaffen und ihre Vorstellung von „Volk“ zu nähren, sagt sie. Mittlerweile gebe es ein ganzes Spektrum rechter Modestile von Outdoor über Hipster „bis hin zum AfD-Look mit Anzug und Perlenkette“. Nicht nur Hawaiihemden, sondern selbst Anzüge sind jetzt rechtsextrem? Das ist ebenfalls kein Witz. „Dann war auch Frau Elster rechtsextrem“, kommentiert ein Facebook-User trocken mit Verweis auf eine Kultfigur des DDR-Kinderfernsehens, die beim Rendezvous mit Herrn Fuchs ab und an eine auffällige Perlenkette trug.


Doch Gaugele fabuliert weiter, dass dazu auch Alexander Gaulands Dackelkrawatte zähle: „In der rechten Mode wird sie als Icon für die Rede ,Wir werden sie jagen‘ genutzt. Dieses Jagen im Sinne von Hass verbreiten, von Menschen in die Flucht schlagen, wurde als Motiv begeistert aufgegriffen.“ Der fast einstündige, immer noch nachhörbare Unsinn nimmt als Generalnarrativ das der Metapolitik, die sich nicht an Wahlen und Regierungsbeteiligungen orientiere, sondern den „vorpolitischen Raum“ besetze: Mit Musik, Kleidung und anderen alltagskulturellen Inhalten. Es gebe Popkultur, die sicherlich nicht rechts sei, aber bestimmte Themen transportiere, die man von rechts nutzen könne: Geschlechtervorstellungen, Familienvorstellungen, Heimatidylle, Weltschmerz, behauptet der Tübinger Soziologe Felix Schilk im selben Feature. Die Bomberjacken und Lonsdale-Shirts von Skinheads sind längst passé, aber Mode spiele auch für die Kultur der Neuen Rechten eine zentrale Rolle, ergänzt Gaugele.


Doch schon im Januar hatte Rabea Fitter auf dem woke-progressiven Blog fashionchangers.de unter dem Titel „Gefährliche Ästhetik: Kleidung der rechtsextremen Szene“ ein ähnliches Narrativ zu etablieren versucht: „Die Ästhetik aus Bomberjacke und Springerstiefeln ist Vergangenheit; längst haben sich neue Kleidungsformen in der Szene etabliert.“ Diese Veränderung sei sehr herausfordernd, da man die Gruppen eben nicht mehr so leicht am Äußeren erkennen könne. Einerseits seien die Motive weiterhin aggressiv und martialisch, und es würden Symbole, Marken und Kleidung getragen, die auf verschiedene geschichtliche kriegerische Auseinandersetzungen verweisen. Gleichwohl fände sich aber auch Kleidung aus dem Milieu der Identitären Bewegung, die sich elitär inszeniert und intellektuelle Gruppen anspricht. Hier werde die Gesinnung mitunter durch kleine Logos von Marken transportiert, die nach außen oft nicht als rechtsextrem zu erkennen seien. Das vermindere die bedrohliche (!) Wirkung, und die Kleidung könne auch im Beruf (!) oder an Universitäten (!) getragen werden.


„Da sich die AfD nicht offen rechtsextrem, sondern demokratisch inszeniert, wäre es für die Partei kontraproduktiv, wenn ihre Mitglieder sich offen aggressiv in Springerstiefeln und Bomberjacke kleiden würden“, assistiert der Potsdamer Soziologe Christoph Schulze und verstärkt damit die Partei-Verteufelung seit dem vorgeblichen Potsdamer „Geheimtreffen“. „Die Gefahr ist, dass am Anfang einer rechtsextremen Biografie neben Rassismus und einem Interesse an der Ideologie auch die soziale Anbindung, Identifikationsangebote und die Ästhetik eine Rolle spielen. Jugendliche finden so einen niedrigschwelligen Zugang in die Gesinnung.“ Auch das ist kein Witz. Kennzeichnend für viele Marken sei die Affinität für die nordische Mythologie und die Affinität zu Kampfsportarten.


In ‚Brauntzen‘ umbenennen


Dabei kochte diese absurde Modediskussion gerade mit Blick auf Mythologie und Kampfsport schon mehrfach hoch. Ein Höhepunkt, an den es in diesem Zusammenhang wieder zu erinnern lohnt: Ende November 2017 tauchte im Netz ein Bild der Trikots mit dem neuen Sponsor des SV Bautzen (Kreisoberliga) auf – mit dem Schriftzug „NRDLND“ für „Nordland“. Der Streetwear-Shop aus Ostsachsen verkauft on- und offline Marken wie Yakuza, Label 23, Fred Perry oder Lonsdale – und Thor Steinar. Linken-Stadtrat Steffen Grundmann schrieb eine Nachricht an die Stadtverwaltung: Weil er „nicht wegschauen“ wolle, wies er pathetisch auf die öffentliche Förderung des Vereins durch die Stadt Bautzen hin. „Vielleicht haben wir darüber die Chance, kritisch mit dem Verein ins Gespräch zu kommen.“ Als „grenzwertiger Erpressungsversuch“ eines Denunzianten im Stile eines Blockwarts oder Hausvertrauensmanns wurde das Schreiben auf der Kommentarseite des MDR kritisiert.


Andererseits fanden sich erwartbare Äußerungen wie „Vielleicht sollte man Bautzen demnächst mal in Brauntzen umbenennen, damit jeder gleich weiß, welche geistige Gemengelage einen dort erwartet. Die Gegend wird wahrscheinlich auch in Zukunft wirtschaftlich kaum auf die Beine kommen. Wer soll denn bitte in einer fremdenfeindlichen Umgebung Geld in neue Arbeitsplätze investieren?“ Auf der anderen Seite wurde lakonisch gefragt, ob Nordland vom Staatsschutz verboten worden sei oder der Verfassungsschutz Ermittlungen aufgenommen habe: „Da sind nach Lage der Dinge bislang nur linke Be- und Empfindlichkeiten im Spiel. Aber diese allein können doch kein Maßstab für unser aller Zusammenleben sein“. Georg Prause identifizierte im Bautzner Boten die dahinter steckende Ambivalenz: „Die einen bevorzugen vielleicht die Marke ‚Thor Steinar‘, die anderen zeigen sich gern im schwarzen Outfit und tragen manchmal nicht nur bei Kälte eine blickdichte Sturmhaube und speziell gefütterte Handschuhe. Denen möchte Herr Grundmann aber eher nicht auf die Finger schauen, sondern er stellt lieber die Volkssport-Fußballer vom SV Bautzen an den öffentlichen Pranger.“


Das Thema verschwand danach wieder aus den Medien, ebenso das Mannschaftsfoto mit der neuen Trikotwerbung als Titelbild von der Facebook-Seite des SV Bautzen – bis 9. Januar 2018. Der Sächsische Fußball-Verband untersagte an diesem Tag dem Verein, für den Sponsor auf dem Spielfeld Werbung zu machen. Laut Verbandssprecher Alexander Rabe würden nach dem frei zugänglichen Onlineauftritt des Unternehmens „dort Kleidungstücke angeboten und verkauft, die als Erkennungsmerkmal der rechtsextremen und neonazistischen Szene gelten (u.a. TS-Thor Steinar). Das Tragen derartiger Kleidung und die Werbung hierfür wiederspricht den Satzungen, der Moral und der Wertevorstellung des deutschen Fußballs“. Für den linken Bautzener Landtagsabgeordneten Heiko Kosel ist das beabsichtigte Sponsoring „durch den Neonaziladen Nordland“ Teil der Strategie seitens Rechtsextremer, den Fußball zu unterwandern: „Das muss unterbunden werden“.


Jetzt schlugen die Wellen natürlich hoch. Neben Verweisen auf den inzwischen arabischen Hintergrund der ostdeutschen Marke und die Auffindbarkeit hunderter TS-Produkte bei Amazon waren mehrere Kritikstränge auszumachen, deren Argumente auch heute wieder aktuell sind. „Die größten Firmen in Deutschland haben aktiv durch Ausbeutung von Zwangsarbeitern im Dritten Reich Milliarden-Vermögen aufgebaut! Sie haben aktiv an der Politik der Nationalsozialisten partizipiert! Das ist mir bei Thor Steinar nicht bekannt“, kommentierte etwa ein erregter Bürger. Ein anderer meinte: „Allein auf die Vermutung hin, dass im Geschäft des Werbepartners eine bestimmte Klientel einkaufen könnte, wird das Sponsoring des Fußballvereins untersagt. Entspricht diese Handlungsweise unserer ‚freiheitlich-demokratischen Grundordnung‘?“ Daneben wurde darauf verwiesen, dass Peek und Cloppenburg „Fred Perry“ anbot oder der FC Liverpool „New Balance“ als Sponsor hatte, „die von Hooligans und Rechten gerne getragen wird“. Marktwirtschaft gilt halt nicht überall.

Nur mit der ‚richtigen‘ Einstellung konnte man was werden


Der zweite Kritikstrang widmete sich der aufscheinenden Doppelmoral im Vergleich zwischen Thor Steinar und Lonsdale: einer Marke, die ihren Ursprung in der britischen Skinheadkultur der Sechziger und Siebziger Jahre hat und als Ausrüster von Muhammad Ali oder Lennox Lewis bekannt wurde. Als sich später Rechtsradikale in die Szene mischten, übernahmen diese europaweit nicht nur die Frisuren, sondern auch die Kleidung. 2009 übrigens erstellte der Berliner Polizeichef Dieter Glietsch eine Liste mit Marken, die seine Beamten nicht tragen dürfen, weil sie ein Bekenntnis zu rechtem Gedankengut seien. Darauf zu finden: Fred Perry und Lonsdale. Die Firmen protestierten, Glietsch nahm seine Liste zurück.


Was dann die PR von Lonsdale probierte, würde man im Fußball wohl als Flügelwechsel von der rechten auf die linke Flanke per Diagonalpass bezeichnen: sie sponserte mit „Roter Stern“ Leipzig und dem SV Babelsberg 03 gleich zwei linke Fußballvereine. So ermöglichte das Label den Leipzigern 2014 die Anschaffung eines multifunktional einsetzbaren Kleinbusses: Transport von Spielern, Sprechanlage bei Heimspielen und Lautsprecherwagen bei Demonstrationen. Auf Letzteres einigten sich beide Parteien ausdrücklich. „Wenn der Bus auch abseits des Platzes dazu beitragen kann, eine Stimme gegen Rassismus zu erheben: umso besser“, so Lonsdale-Sprecher Ralf Elfering in der taz.


Dieser Kritikstrang kann aber vor allem an der Drei-, ja Vierfachmoral festgemacht werden, die in diesem Verbot zutage trete: „Ich kenne Clubs, die haben einen vorbestraften Präsidenten; Trikotwerbung eines Autoherstellers, welcher hundertausendfach betrogen hat; eines Modediscounters, welcher seine Produkte durch Kinderarbeit produzieren lässt, oder eines Chemiekonzerns, dessen Produkt im Verdacht steht, Mensch und Umwelt massiv zu beeinträchtigen“, ärgert sich einer. „Wie passt es ins moralische Konzept, an Weltmeisterschaften in Ländern teilzunehmen, in denen die Menschenrechte mit Füßen getreten werden?“ fragt ein weiterer. „Glauben Sie vielleicht, dass Menschen im Armani-Anzug kein nazistisches Gedankengut in sich tragen könnten?“, ein dritter. Ein vierter beklagt sich bitter: „Dieselhysterie, Klimahysterie, Trumphysterie, Fleischhysterie, Sarrazinhysterie... Jetzt muss ich mir sogar schon beim Kleidungskauf überlegen, ob man da nicht rechtes Gedankengut hineininterpretiert, und vorsorglich fragen, ob in dem Geschäft schon mal ein Rechter eingekauft hat.“ Und ein fünfter schließlich bringt es unter ostdeutscher Perspektive auf den Punkt: „Hatten wir schon mal, nur mit der ‚richtigen‘ Einstellung konnte man was werden“.


Schade um Thor


Der dritte, politisch-mediale Kritikstrang  stellte – wie auch jetzt die Fashion-Liste – auf die erschreckende Unkenntnis ab, gepaart mit der Mainstream-Deutungshoheit von zwei „Markensorten“: solchen, die nicht nur von „Nazis“ getragen würden und überall erhältlich seien (Lonsdale, aber auch Fred Perry, Ben Sherman, Alpha Industries…), und solchen, die sich bewusst an die rechtsextreme Szene wenden würden, die es nur in einschlägigen Läden zu kaufen gäbe und deren Erlöse oft wiederum der rechten Szene zugutekämen – wie Consdaple, Masterrace Europe oder eben Thor Steinar. So spiele die Marke laut MDR „bewusst mit völkischen Symbolen und germanischen Runen“ – und spreche dementsprechend auch eine gewisse Zielgruppe an – und laut dem inzwischen eingestellten BENTO mit „nordischer Mystik“.


Wieland Freund erklärte aber in der Welt in anderem Zusammenhang bereits im Februar des „Skandaljahres“: „In der Schule gab es nach 1945 jede Menge über den Kriegsgott Mars zu lernen, aber kaum etwas über Odin, Loki und Thor. Das war, wie so viele Tabus, verständlich, aber nicht schlau. Was die Germanen angeht, haben die Neonazis weitermachen können, wo die Nationalsozialisten aufgehört haben: Es hat sich in Deutschland außer Professoren ja sonst kaum einer für die nordischen Mythen interessiert. Schade um Thor, den Gott mit dem zu kurzen Hammer. Schade um Odin, der eines seiner Augen in Mimirs Brunnen der Weisheit legte.“ Fakten wurden schon immer von Ideologie geschlagen.


Aber Moment, ging es eigentlich um Thor Steinar? Mitnichten! SV-Chef Keller drückte das in einem Brief an MDR-Intendantin Karola Wille so aus: „Bereits das Bild, mit dem der Beitrag provokativ aufgemacht wird, suggeriert dem Betrachter, der SV Bautzen habe die Marke Thor Steinar als Sponsor. Wir aber haben mit dem Textilgeschäft Nordland in Wilthen … eine Sponsorenvereinbarung über den Erwerb eines Trikotsatzes abgeschlossen und nicht mit einer speziellen Marke, die dieser Händler vertreibt.“ Ein Kommentator verwies in der ARD daneben auf eine pikante Formalie: „Was hat dieses regionale Ereignis bei der Tagesschau zu suchen? Danke für die schlüssige Erklärung im Voraus!“ Selbstredend wurde weder im MDR der Brief erwähnt noch diese Erklärung in der ARD gegeben, das regionale Ereignis selbst aber wie immer bundesweit ausgeschlachtet: Als pars-pro-toto-Kontaktschuld.


Der Hintergrund dieser Marke sei also trennend, fremdenfeindlich und in seinen Zielen rassistisch, weiß der Bautzner SPD-Stadtrat Roland Fleischer: „Ob das allen Vereinsmitgliedern klar ist, bezweifle ich. Umso wichtiger ist die jetzige Diskussion“. Ein Kommentator konterte sofort: „In welchem Gerichtsurteil wurde diese Aussage festgestellt? Im Moment ist das üble Nachrede“. Was im Nordland-Sortiment koexistieren darf, muss im Sortiment der Ideologien offenbar einer Kriegshandlung mit völliger Feindvernichtung unterzogen werden. Ambivalenzkompetenz? Fehlanzeige. Dass das grandioser Unsinn ist, machte nur wenige Tage zuvor das Phantasialand deutlich. Es stand in der Kritik, weil dort ein Mann mit Springerstiefeln und einem „Thor Steinar“-T-Shirt herumlief. Ein Besucher sah dies und konfrontierte den Freizeitpark auf Twitter damit. Phantasialand antwortete darauf, dass – ob das heute noch so stehen bleiben darf, ist getrost zu bezweifeln – jeder in den Park dürfe, unabhängig davon, welche Kleidung er trage.


Soweit darf es bundesweit natürlich nicht mehr kommen. Die Volkserzieher von BENTO publizierten einen langen, bebilderten Text unter der Überschrift „Was du tun kannst, wenn Freunde oder Kollegen Nazi-Kleidung tragen“. Danach solle „man auch andere Mitarbeiter über die Gesinnung des Kollegen informieren und mit ihnen Strategien entwickeln. Die Kollegen können so gemeinsam überlegen, ob sie den betreffenden Mitarbeiter beispielsweise in seine Schranken weisen oder auch den Kontakt auf ein Minimum beschränken.“ Das ist kein Witz. Ein ähnliches staatlich behütetes Kleiden wurde nun wieder mit Blick auf germanische Überlieferungen herbeigeschrieben. Etwa im Stern, der vom Keltenkreuz bis zur neuen Kampfsportmarke „White Rex“ genüsslich einen ähnlichen Katalog wie den von „Fashion against Fascism“ ausbreitete. 


Wie fühlt sich eine Burka an?


Es war aber für viele DDR-Bürger eine Schlüsselszene ihrer Schulzeit, wenn ein Mitschüler während des Unterrichts zum Direktor zitiert wurde und nach einer Viertelstunde wiederkam: hochrot im Gesicht vor Zorn und Scham und tief gedemütigt ob des abgefetzten „Ami-Schwurfingers“ an seiner Jeansjacke – wenn er nicht gar selbst davon betroffen war. Dieses Freund-Feind-Schema der Arbeiter- und Bauerndiktatur, dass es systemgefährdende Accessoires, ja gute und schlechte Kleidung gebe, hat sich die Pseudo-Elitendiktatur von heute inzwischen zu Eigen gemacht. Einerseits soll der Bürger subtil zur Anerkenntnis erzogen werden, welche Kleidungstücke, Marken, Verkäufer und Nutzer je nach ideologischer Passung moralisch gut oder schlecht, sozial erwünscht oder unerwünscht, ja politisch konform oder rechtsextrem zu sein haben.


Andererseits soll er eine kulturfremde Kostümierung, die in Belgien, Frankreich, Niederlande, Österreich, Lettland und Bulgarien verboten ist, nicht nur akzeptieren, sondern den Umgang damit auch noch trainieren: Denn parallel dazu sorgte der Kurs „Kopftuch und Hijab in Dresden – Kleiderordnungen im Islam“ der Volkshochschule VHS Dresden für entgegen gesetzte Aufregung. Grund: in der Beschreibung des schon mehrfach angebotenen, von der Stadt geförderten Kurses heißt es, dass darin „Praxis, Herkunft und Bedeutung der einzelnen Kleiderordnungen aufgezeigt“, ja „praktisch („Wie fühlt sich eine Burka an?“) ausprobiert werden können“. Laut VHS-Chef Jürgen Küfner diene der Kurs „der wertfreien und neutralen Aufklärung und Information über die verschiedenen Kleiderordnungen im Islam.“ Die erzwungene Verhüllung der Frau wird also „wertfrei“ vermittelt – und das in einem Land, in dem Frauenrechte nicht nur medial herauf- und heruntergepredigt werden. „Ein Blick in jedes beliebige islamisch geprägte Land reicht, um zu sehen, dass die Verschleierung dort einzig ein Instrument ist, um Frauen zu marginalisieren und auszugrenzen“, erboste sich die Islamkritikern Necla Kelek über das Kursangebot.


In der Gesamtschau ist zu konstatieren: Die Flutung des Diskursraums mit irrelevanten Fakten zur Ablenkung vom Wesentlichen, zur Moralisierung, Skandalisierung und Extremisierung ist ein primäres Mittel postfaktischer Politik – in Deutschland immerhin das Wort des Jahres 2016. Der US-Fernsehsatiriker Stephen Colbert führte aber schon elf Jahre zuvor seine Wortschöpfung truthiness ein, die nicht ins Deutsche übersetzbar ist. Colbert bezeichnete damit ironisch den Wesenszug einer Aussage, die stark an vorgefasste Überzeugungen appelliert und sich darum so wahr „anfühlt“, dass man auf die Prüfung ihres tatsächlichen Wahrheitsgehalts gern verzichtet. Beweise, Widerspruchsfreiheit und Wissenschaftlichkeit als Machtkategorien in einem normalen politischen Diskurs interessieren eine zunehmende Anzahl Menschen nicht mehr. Die angebotenen Erklärungsmodelle sollen vor allem eine Nähe zur Gefühlswelt der angesprochenen Bürger haben: Die primären Fragen dieses Landes wie Massenmigration, Deindustrialisierung oder Bildungsverfall werden mit Diskussionen um das Aussehen von Fußballtrikots beantwortet.


Fakten erlangen heute ihre politische Bedeutung fast nur noch durch moralische Interpretation. Leider. Man könnte die Absicht des politmedialen Systems interpretieren, die Öffentlichkeit so oft mit Halbwahrheiten oder offensichtlichen Falschaussagen zu belästigen, bis diese die kognitive Dissonanz nicht mehr aushält und – „Wie viele Finger, Winston?“ – erschöpft einlenkt. Diese kommunikativ-kognitive Belästigung, gegen die man sich auch mit Medienverweigerung kaum vollständig wehren kann, führt – verbunden mit der Implikatur der „richtigen“ moralischen Perspektive – zur zwangsweisen Beschäftigung mit Signifikaten, über die Menschen mit gesundem Menschenverstand gar nicht nachdenken geschweige ihre – unideologische – Haltung dazu rechtfertigen. Wir müssen endlich wieder zum selbst- statt fremdbestimmten Gebrauch der Wahrnehmung zurückkehren, der in einer Ziffer keine Rune, in einem Adjektiv keinen Nazicode oder in einem Kleidungsstück keinen Ausdruck von Gesinnung, sondern bestenfalls einen von Stil, Ästhetik oder auch sozioökonomischem Selbstbewusstsein – wahlweise Understatement oder auch Unterprivilegierung – sieht. Auch jedes betreute Anziehen ist eine Form ausgrenzender Identitätspolitik.


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Über den Autor: Thomas Hartung, geb. 1962 in Erfurt; promovierte nach seinem Lehramtsstudium in Magdeburg 1992 zur deutschen Gegenwartsliteratur und war danach als Radio- und Fernseh-Journalist in Sachsen-Anhalt und Sachsen sowie als freiberuflicher Dozent für Medienproduktion und Medienwissenschaft an vielen Hochschulen Deutschlands tätig; der bekennende „Erzliberalkonservative“ trat als Student in die LDPD ein und 1990 aus der FDP aus: von „misslungener Einheit“ nicht nur mit Blick auf die Parteienfusion spricht er bis heute; Hartung war im April 2013 Mitbegründer der AfD Sachsen und wurde zweimal zum Landesvize gewählt. Seit März 2020 ist er Pressesprecher der AfD-Fraktion Baden-Württemberg.



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