Thomas Hartung: STERNE LASSEN SICH NICHT DEKOLONISIEREN
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Dass ein internationales Teleskop in Namibia ein Rückfall in den Neokolonialismus sei, steht für die Verwirrung unserer Zeit. Ein Plädoyer für Wissenschaft, Vernunft und die Freiheit des Himmels.
Auf dem Gamsberg in Namibia soll ein Radioteleskop entstehen – das Africa Millimetre Telescope (AMT). Ein Hochplateau, 2.347 Meter über dem Meer, mit klarem Himmel und idealen Bedingungen. Von hier aus will die Menschheit Schwarze Löcher filmen, das Unsichtbare sichtbar machen, das Universum in Bewegung erfassen. Doch das Projekt wird im deutschen Feuilleton nicht als Triumph, sondern als Problem beschrieben: Ist es nicht „Neokolonialismus“, wenn Forscher aus Europa ihre Geräte in Afrika aufstellen? Schon der Titel des ZEIT-Artikels „Wie man ein Teleskop baut, ohne ein Schuft zu sein“ von Fritz Habekuß verrät die Denkrichtung.

Damit ist das Drama umrissen: eine Menschheitsaufgabe, die durch die Brille des Schuld-Diskurses betrachtet wird. Der Bau eines Observatoriums wird in eine Linie gestellt mit den Taten deutscher Truppen gegen Herero und Nama, als ob Radiowellen die Fortsetzung von Gewehrläufen wären. Schon die Fragestellung, ob man überhaupt moralisch sauber in die Sterne blicken dürfe, zeigt die Krankheit unserer Zeit: das Staunen über den Kosmos wird durch das Zittern vor moralischen Anklagen ersetzt. Der inflationäre Gebrauch des Kolonialismusbegriffs verrät eine westliche Seele, die sich ihrer selbst überdrüssig geworden ist. Sie kann wissenschaftliche Neugier nicht mehr ohne Scham empfinden. Sie vergiftet jedes Projekt mit Verdacht, jedes Staunen mit Schuld, jede Tat mit Selbstanklage.
Natürlich: Namibia trägt die Narben der Vergangenheit. Der Völkermord an den Herero und Nama war das erste große Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts. Doch was hat das mit einem Teleskop zu tun, das 130 Jahre später unter Beteiligung namibischer Universitäten errichtet wird? Hier von „Neokolonialismus“ zu sprechen, ist eine groteske Ausweitung des Begriffs. Kolonialismus hieß: Landnahme, Unterwerfung, Ausbeutung. Das AMT dagegen bedeutet: Kooperation, Wissenstransfer, gemeinsame Forschung. Es ist absurd, ein Radioteleskop mit einer Garnison gleichzusetzen, eine Stahlkuppel mit einem Konzentrationslager. Wer das tut, verharmlost die Opfer von damals – und beleidigt zugleich die Wissenschaft von heute.
Wissenschaft als Allgemeingut der Menschheit
Noch absurder ist die Logik, dass wissenschaftliche Infrastruktur in Afrika per se „verdächtig“ sei. Als ob die Sterne Eigentum der Europäer wären und jeder Versuch, sie in Afrika zu betrachten, eine Art Raub. Tatsächlich ist es genau umgekehrt: Afrika gewinnt. Namibia sichert sich einen Platz in der Zukunft, nicht nur in der Erinnerung. Astronomie war immer ein transkulturelles Erbe. Die Babylonier vermaßen die Sterne, die Araber bewahrten und erweiterten das Wissen, die Europäer bauten die großen Observatorien. Und auch die afrikanischen Völker erzählten ihre Mythen vom Himmel, lasen den Nachthimmel wie ein Buch.
Das Africa Millimetre Telescope fügt sich in diese Tradition ein. Namibia wird Teil des Event-Horizon-Telescope-Netzwerks, das 2019 das erste Bild eines Schwarzen Lochs veröffentlichte. Es ist kein koloniales Projekt, sondern ein globales Unternehmen: Wissenschaftler aus Asien, Europa, Amerika und nun auch Afrika verbinden ihre Daten, um den Kosmos zu entschlüsseln. In Namibia entstehen Ausbildungsplätze, Stipendien, neue Studiengänge. Junge Menschen, die sonst vielleicht Anwälte oder Beamte geworden wären, finden sich plötzlich in der Lage, Astrophysiker zu werden. Das Land gewinnt Infrastruktur, internationales Kapital, wissenschaftliche Expertise. Und es gewinnt Würde: nicht nur als Ort der Erinnerung an Massaker, sondern als Ort der Zukunft.
Immanuel Kant sprach vom „bestirnten Himmel über mir“ als Symbol für die Universalität der Vernunft. Für ihn war klar: Der Blick in den Kosmos ist ein Blick über alles Partikulare hinaus. Er gehört nicht einer Nation, sondern der Menschheit. Heute jedoch wird dieser Universalismus durch einen partikularistischen Moralismus verdrängt. Der Himmel über Namibia soll nicht mehr ein Allgemeingut sein, sondern ein „heiliger Ort“ partikularer Identität. In Hawaii etwa blockierten indigene Gruppen den Bau eines Teleskops, weil der Vulkan Mauna Kea als Sitz der Götter gilt. Damit wird die Wissenschaft in den Bannkreis des Mythos zurückgezogen.
Doch Kants Einsicht bleibt gültig: Die Vernunft ist allgemein. Wissenschaft, die an die Sterne rührt, gehört nicht dem Westen, nicht dem Osten, nicht dem Süden. Sie ist Menschheitsprojekt. Wer den Himmel ethnisiert, entzieht sich dem Gesetz der Vernunft. Hegel hätte noch deutlicher reagiert. Für ihn war die Weltgeschichte der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit. Die Wissenschaft ist Ausdruck dieser Entwicklung.
Carl Schmitt und der Nomos des Himmels
Die postkoloniale Rhetorik versucht, diesen Fortschritt zu blockieren. Indem sie den Himmel „dekolonisieren“ will, zieht sie die Erkenntnis zurück in den Bannkreis des Lokalen. Doch Hegel hätte gesagt: Das Wahre ist das Ganze. Der Kosmos ist der Ort, an dem die Vernunft sich selbst erkennt. Dass Namibia – ein Land mit kolonialer Vergangenheit – nun Teil dieser Vernunftgeschichte wird, ist gerade Ausdruck der „List der Vernunft“: Aus Schuld wird Zukunft, aus Geschichte Erkenntnis. Carl Schmitt beschrieb einst den „Nomos der Erde“: die Ordnung der Welt durch Landnahme. Heute erleben wir einen „Nomos des Himmels“. Der Zugang zu den Sternen, zu Daten und Bildern Schwarzer Löcher, ist Teil der globalen Machtverteilung.
China, Indien, die USA – alle bauen Observatorien und Raumstationen. Nur Europa diskutiert, ob es damit vielleicht „Schuft“ sei. So wird der Begriff „Neokolonialismus“ zur Fessel: Er bindet westliche Projekte moralisch, während andere Mächte unbehelligt handeln. Das ist das eigentliche Paradox: Ausgerechnet die Anklage gegen Kolonialismus produziert eine geopolitische Asymmetrie. Der Westen hemmt sich selbst, während andere voranschreiten. Der moralische Diskurs wird zum Instrument eines neuen Machtspiels.
Edward Said, Gayatri Spivak, Achille Mbembe – ihre Schriften sind die Bibeln der postkolonialen Theorie. Sie kritisieren epistemische Herrschaft, koloniale Extraktion, die Unterdrückung der „subalternen Stimme“. Doch was haben diese Kategorien mit Astronomie zu tun? Die Sterne lassen sich nicht „kolonisieren“. Schwarze Löcher sind keine Ressourcen, die man plündern könnte. Wer hier „Extraktivismus“ wittert, verwechselt Photonen mit Diamanten, Daten mit Blut. Spivaks berühmte Frage „Can the Subaltern speak?“ wird absurd, wenn man sie auf Radiowellen anwendet. Kann das Schwarze Loch sprechen? Nein. Es sendet Strahlung, es beugt Raum und Zeit, aber es hat keine Stimme. Der Versuch, auch dies in ein Narrativ von Macht und Unterdrückung zu pressen, ist nicht nur lächerlich, sondern intellektuell unredlich.
Bemerkenswert ist, dass die Kritik selten aus Afrika selbst kommt. In Namibia gibt es keine Proteste, keine indigene Bewegung gegen das Teleskop. Stattdessen ist es ein europäisches Selbstgespräch, gespeist aus Schuld und Moralismus. Die Ironie: Ausgerechnet jene, die den Kolonialismus verurteilen, wiederholen seinen Gestus. Sie sprechen für die Afrikaner, erklären sie zu Opfern, noch ehe diese selbst zu Wort gekommen sind. Sie misstrauen ihrer Fähigkeit, souverän zu entscheiden, ob ein Teleskop ihrem Land nützt. Das ist der eigentliche Neokolonialismus: nicht die wissenschaftliche Kooperation, sondern die moralische Entmündigung. Afrikaner dürfen nicht Subjekte ihrer Zukunft sein, sondern nur Objekte europäischer Schuldabwehr.
Die Freiheit des Himmels
Ein ähnlicher Mechanismus zeigt sich jüngst in der „Kartendebatte“: Die Mercator-Projektion, die einst die Seefahrt revolutionierte, wird heute als koloniales Unterdrückungsinstrument denunziert. Was Jahrhunderte lang nüchternes Orientierungswissen war, wird – sinnigerweise ebenfalls in der ZEIT – zum Symptom imperialer Gewalt erklärt. Afrika sei auf dieser Karte „verzwergt“, heißt es, als ob die Größe von Kontinenten von Papier abhängen würde und nicht von Ordnung, Recht und politischer Kultur. Hier wie beim Teleskopbau in Namibia ersetzt man nüchterne Technik durch symbolische Empörung. Man pflegt das Ressentiment, statt die realen Aufgaben – Armut, Korruption, Bildung – in den Blick zu nehmen. So entlarvt sich der Diskurs über Karten ebenso wie jener über Teleskope als Flucht ins Moralisieren: nicht Substanz, sondern Geste, nicht Wahrheit, sondern Kränkung.
Der Himmel über Namibia ist dunkel und still. Er zeigt die Milchstraße, wie sie die ersten Menschen gesehen haben müssen. Ihn als „kolonial“ zu denunzieren, heißt, die Menschheit von sich selbst abzuschneiden. Denn der Himmel gehört niemandem – und damit allen. Astronomie ist nicht Raub, sondern Erinnerung an die Einheit der Menschheit. Das AMT ist kein Monument der Schuld, sondern ein Leuchtturm des Universalismus. Es zeigt, dass der Mensch über Stammeslogiken hinausdenken kann. Vor dem Schwarzen Loch sind wir alle gleich. Radiowellen fragen nicht nach Hautfarbe, Gravitation unterscheidet nicht zwischen Kolonisator und Kolonisiertem. Wer hier von Neokolonialismus spricht, hat den Kosmos nicht verstanden.
Die Sterne lassen sich nicht dekolonisieren. Wer es versucht, kolonisiert nur die Vernunft selbst. Namibia gewinnt durch das AMT einen Platz in der Weltgeschichte – nicht als Opfer, sondern als Mitspieler. Es ist die eigentliche Ironie der Geschichte: Ein Land, das durch den Kolonialismus gezeichnet wurde, tritt gerade dadurch in die Zukunft, dass es Teil eines Menschheitsprojekts wird. Die größte Gefahr liegt nicht in angeblicher Ausbeutung, sondern in einem postkolonialen Partikularismus, der den Himmel in Stammesgrenzen zerreißt.
Wer den Kosmos ethnisiert, verrät die Wissenschaft. Der offene Himmel bleibt das letzte Symbol der Freiheit. Er entzieht sich allen Moralen, allen Identitäten, allen Schuldnarrativen. Und wer heute in Namibia ein Teleskop baut, befreit nicht nur dieses Land, sondern auch Europa – aus seiner selbstverschuldeten moralischen Unmündigkeit.
Über den Autor: Thomas Hartung, geb. 1962 in Erfurt; promovierte nach seinem Lehramtsstudium in Magdeburg 1992 zur deutschen Gegenwartsliteratur und war danach als Radio- und Fernseh-Journalist in Sachsen-Anhalt und Sachsen sowie als freiberuflicher Dozent für Medienproduktion und Medienwissenschaft an vielen Hochschulen Deutschlands tätig; der bekennende „Erzliberalkonservative“ trat als Student in die LDPD ein und 1990 aus der FDP aus: von „misslungener Einheit“ nicht nur mit Blick auf die Parteienfusion spricht er bis heute; Hartung war im April 2013 Mitbegründer der AfD Sachsen und wurde zweimal zum Landesvize gewählt. Seit März 2020 ist er Pressesprecher der AfD-Fraktion Baden-Württemberg.
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