Till Kinzel: ZUM 70. TODESTAG VON JOSÉ ORTEGA Y GASSET
- vor 3 Stunden
- 6 Min. Lesezeit
„Die europäische Zivilisation zweifelt ernstlich an sich selbst. Wir können uns gratulieren, daß es so ist. Ich kann mich nicht erinnern, daß irgendeine Zivilisation an einem Anfall von Zweifeln zugrunde gegangen wäre. Ich glaube mich vielmehr zu entsinnen, daß Zivilisationen an einer Versteinerung ihrer Glaubenstradition und einer Arterienverkalkung ihres Glaubensinhaltes zugrunde gegangen sind.“ Als der spanische Philosoph José Ortega y Gasset diese Worte schrieb, formulierte er einen Gedanken, welcher der Intuition vieler Kulturkritiker auch unserer Tage widerspricht. Denn die Vorstellung, Selbstzweifel seien für die Identität einer Zivilisation tödlich, ist weit verbreitet. Aber vielleicht zeigt sie selbst auch nur an, daß diese Kulturkritiker gar nicht verstanden haben, was das Wesen der europäischen Zivilisation eben auch ausmacht – nämlich eine Tradition der Selbstbefragung, die auf den Impuls der sokratischen Selbsterkenntnis verweist: Europa ist gerade deswegen stark, weil es trotz der verbreiteten Selbstzweifel zu sich stehen kann, jedenfalls aus diesen – gerade im Vergleich mit anderen Zivilisationen – nicht den Schluß ziehen muß, sich selbst aufzugeben.

Denn das, was Europas Stärke ausmacht oder doch ausmachen könnte, wären seine Eliten heute nicht im präzisen Sinne weltfremd. Gerade die Vielfalt seiner Traditionen, aus denen sich die europäische Identität speist. Es kommt aber viel darauf an, welche dieser Traditionen im 21. Jahrhundert aufgegriffen werden. Um die kulturelle Vielfalt Europas zu würdigen, muß man eine Unterscheidung treffen: Europa ist nicht identisch mit der Europäischen Union und schon gar nicht mit ihrer Deutung durch die Brüsseler Nomenklatura. Europa kulturell und geographisch genau zu definieren wird damit aber nicht leichter. Da mag ein Blick auf die Philosophie José Ortega y Gassets „hilfreich“ sein – und weiterhin ihr vertieftes Studium.
Psychologie des verwöhnten Kindes
Der spanische Philosoph Ortega y Gasset – geboren am 9. Mai 1883 in Madrid, gestorben ebendort am 18. Oktober 1955 – hatte in Deutschland neben Berlin und Leipzig vor allem in Marburg studiert. Er war dort später oft zu Gast und hatte vor allem mit seinem modernitätskritischen Werk Aufstand der Massen (1930) sowie seinen kunstkritischen Essays unter dem Titel Die Vertreibung des Menschen aus der Kunst großen Anklang gefunden. Den größten Erfolg hatte zweifellos das auch in Deutschland in sehr hohen Auflagen verbreitete Buch Der Aufstand der Massen, das eine umfassende, wenn auch idiosynkratische Kritik der Massengesellschaft vortrug, ja als „Standardwerk europäischer Selbstkritik“ (Franz Niedermayer) gelten kann, das man mißversteht, wollte man es etwa bloß als einen wissenschaftlichen Beitrag zur Soziologie lesen. Aber manches ist doch von einer großen sozialpsychologischen Anregungs- und Erschließungskraft, so wenn er dem Massenmenschen durch zwei Konzeptionen zu bestimmen sucht, deren Konsequenzen wohl verdienen, ausbuchstabiert zu werden: „Die ungehemmte Ausdehnung seiner Lebenswünsche und darum seiner Person; und die grundsätzliche Undankbarkeit gegen alles, was ein reibungsloses Dasein ermöglicht.“ Ortega zieht dabei selbst die Verbindung zur Psychologie des verwöhnten Kindes, und er sieht nicht nur ein Problem darin, wenn dem Menschen der Massengesellschaft die „Erfahrung fremder Überlegenheit“ fehlt, die zugleich die Grenzen ihres jeweiligen Ichs markiert. Die Menschen, die sich über die Funktionsbedingungen der modernen Gesellschaft hinwegtäuschten, seien mit nichts mehr als mit ihrem Wohlbefinden beschäftigt und glaubten, die Vorteile der Zivilisation, die in Wirklichkeit „nur mit großer Mühe und Umsicht erhalten werden können“, könnten von ihnen einfach mit lauter Stimme gefordert werden, als handele es sich um Dinge, auf die sie ein angeborenes Recht hätten.
Viele andere gehaltvolle Schriften, so etwa zu Arnold Toynbees heute gleichfalls fast vergessener Geschichtsdeutung (Eine Interpretation der Weltgeschichte), wurden in deutscher Übersetzung herausgebracht; und weil Ortega inzwischen weitgehend unter die großen Vergessenen abgebucht wird, hat es der antiquarische Büchersucher leicht, sich günstig mit den wichtigsten Texten zu versorgen und so selbst etwas zum Fortbestand seines Denkens beizutragen.
Ein Beobachter der Alltagswelt
Denn soviel ist klar: Ortegas Bücher spielen im heutigen akademischen Diskurs keine Rolle mehr. Aber ist damit ein gültiges Unwerturteil ausgesprochen? Dagegen spricht schon der Zustand der heutigen Universitäten, die, vorsichtig gesagt, nicht überall das sind, was sie sein sollten. Dabei gehörte Ortega y Gasset – ähnlich wie der Katholik Josef Pieper oder der ungläubige Protestant Karl Jaspers – zu den schriftstellerisch erfolgreichsten Philosophen seiner Zeit. Und sicherlich trug gerade diese Popularität auch dazu bei, ihn unter Fachleuten verdächtig zu machen. Man darf es daher den Universitäten nicht überlassen, wer einen Platz im kulturellen Gedächtnis erhält...
Ortega, der früh durch maßgebliche Studien zu Leibniz hervortrat, gelangte zwar 1910 auf den Madrider Lehrstuhl für Metaphysik, kultivierte indes zugleich eine Position, die man als gegen das akademische Establishment gerichtet verstehen konnte und mußte. Denn für Ortega durfte Philosophie nicht in Pedanterie ausarten, wenn sie mit dem Leben in Verbindung bleiben sollte.
Ortega reflektierte intensiv Spaniens Beziehung zu Europa und insbesondere Deutschland, mit dessen philosophischen Denken er vor allem in Form des Neukantianismus (Paul Natorp, Hermann Cohen) sowie der Kulturphilosophie Georg Simmels in engere Berührung kam. Auch die Phänomenologie Husserls wurde für Ortega methodisch wegweisend; mit Wilhelm Dilthey dagegen setzte er sich erst seit den späten 1920er Jahren auseinander. Ortegas Denken gehört selbst in den weiten Rahmen der Lebensphilosophie, doch war er kein systematischer Philosoph, sondern knüpfte seine Gedanken okkasionell an scheinbar willkürliche Beobachtungen der Alltagswelt, die nachhaltige Beiträge zur Anthropologie bieten (z. B. Ästhetik in der Straßenbahn; Der Mensch und die Leute).
Ich bin ich und meine Lebenssituation
Schon mit seinem ersten philosophischen Buch von 1914, den Meditationen über Don Quijote, reiht er sich unter jene Denker ein, die sich an einem „unaufhörlichen Ringen gegen den Utopismus“ beteiligen. Auch damit bleibt Ortega aktuell: In Cervantes’ Don Quijote sah er den paradigmatischen Menschen mit seinem utopischen Drang. Ortega selbst wendet sich von den auch politisch fatalen Extrempositionen seiner Zeit ab und wird in seiner Verteidigung des Wertes des Einzelnen ein „Herausforderer der deutschen Idealisten und Materialisten“, wie es der Romanist Franz Niedermayer ausdrückte, der später zu den Entdeckern Nicolás Gómez Dávilas gehören sollte. Ortega selbst verabschiedet jedoch die Metaphysik keineswegs. Die Anthropologie Ortegas ist stark von seinem erkenntnistheoretischen Perspektivismus geprägt; sein berühmter Satz „Ich bin ich und meine Lebenssituation“ bindet die Identität des Einzelnen an sein jeweils konkret gelebtes Dasein, das nicht zugunsten irgendwelcher Großtheorien übersprungen werden darf.
Für Ortega liegt das Wesen des Menschen letztlich in der Ungewißheit und Unsicherheit, da er das Leben von Anfang als Schiffbruch versteht. Nur die Unsicherheit sei sicher, woraus Ortega den Schluß zieht, daß sich der Mensch auch der Möglichkeit eines totalen Bruchs mit der Menschlichkeit bewußt sein müsse, eines Rückfalls in die bloße Animalität. Das tragische Bewußtsein dieser Möglichkeit ist die Voraussetzung der Kultur. Ortega stand der Idee eines notwendigen Fortschritts kritisch gegenüber; denn sie bedeutete die Aufgabe jeder Verantwortung und zugleich die Einschläferung der nötigen Wachsamkeit. Indem Ortega die Unsicherheit des Menschen hervorhebt, grenzt er ihn vom Tier ab, dessen Wesen in der Anpassung liege. Daraus resultiert Ortegas Bestimmung des Menschseins als wesensmäßiger Unangepaßtheit: „Der Mensch ist, wo er auch immer ist, ein Fremder.“ Das darf nicht absolut verstanden werden, da es immerhin Grade der Vertrautheit und der Fremdheit gibt, aber als Korrektiv einer allzu großen Selbstgewißheit und als Erinnerung an die exzentrische Position des Menschen in der Welt wird man eine gewisse Dosis dieser Bestimmung akzeptieren können.
Um Goethe herumbewegen
Ortegas besaß ein scharfes Bewußtsein für Phänomene der Dekadenz, aber das bedeutete bei ihm gerade nicht, daß er einem unzulässigen Pessimismus gehuldigt hätte. Auch wenn er in seinem berühmten Münchner Vortrag von 1953 über die Frage: „Gibt es ein europäisches Kulturbewußtsein?“ zugestand, „daß unsere Zivilisation problematisch geworden ist, daß alle ihre Prinzipien ohne Ausnahme fraglich erscheinen“, sah er doch darin kein Zeichen der Agonie, sondern ein Symptom für das Werden einer neuen europäischen Zivilisation. Periodische Krisen seien geradezu eine Eigenheit der europäischen Kultur, worin Ortega ihre spezifische Offenheit erblickte, da sie im Gegensatz zu anderen geschichtlichen Kulturen keine „kristallisierte Kultur“ ist.
Oder leidet diese Kultur inzwischen doch an einer Sklerose? Immerhin hatte ein scharfäugiger Beobachter wie der 2024 verstorbene Eberhard Straub auch in Ortega y Gasset eine wichtige Ressource erblickt, die für eine „schöpferische Restauration“ Europas anzuzapfen wäre.
Ortega selbst wies auf die Notwendigkeit hin, mehr denn je unsere Begriffe zu schärfen, um sie „blankpoliert, klar und keimfrei“ für die nötigen geistigen Operationen zur Hand zu haben. Aber Ortega tat noch etwas anderes, das man heute wieder neu zu sichten haben wird: Er hielt, ausgehend von seiner intensiven Beschäftigung mit Goethe nicht nur zum 100. Todestag des Dichters im Jahre 1932 eine berühmte Rede („Um einen Goethe von innen bittend“), sondern erinnerte auch in der Nachkriegszeit an verschiedensten Orten – und eben auch in Deutschland – an Goethe. Aber nicht an den zu einem Olympier kristallisierten Goethe, der als Statue stocksteif auf einem öffentlichen Platz zum Denkmal gemacht wurde und so als Gesprächspartner vor allem der jungen Generation ausfällt. Es ging ihm vielmehr darum, selbst ein „Goethe-Begegner“ zu sein, der sich um Goethe herumbewegt, dabei indes immer den „inneren“ Goethe im Blick behält. Das aber aus dem Grunde, daß das Menschliche in der Innerlichkeit bestehe, ohne welche die Person bloß eine hohle Schale bliebe. Personalität aber ist in der Welt des 21. Jahrhunderts in ganz neuer Form ein authentisches Problem geworden – und eben das macht die Auseinandersetzung mit einem Goethe, wie ihn Ortega y Gasset umkreist, zu einer fortdauernden Herausforderung – und Ortega selbst zu einem Diagnostiker, an dem es sich zu reiben lohnt.
Über den Autor: Till Kinzel ist habilitierter Literatur- und Kulturwissenschaftler. Er hat u.a. Bücher zu Allan Bloom, Nicolás Gómez Dávila, Philip Roth und Michael Oakeshott und Johann Georg Hamann publiziert. In TUMULT hat er über Panajotis Kondylis geschrieben (und im Blog über Ricarda Huch und Wyndham Lewis).
Hier können Sie TUMULT abonnieren.
Für Einzelbestellungen klicken Sie bitte hier.
Besuchen Sie das Dresdner TUMULT FORUM - für Termine und Neuigkeiten genügt eine Nachricht mit Ihrem Namen und dem Betreff TERMINE an TUMULTArena@magenta.de